von Norbert Kollenda
Norbert Kollenda nahm am 10.Juni an einer Demonstration in Poznan teil und sammelte Stimmen zu verschiedenen aktuellen Problemkreisen: Wohnung, Kultur und Sport, Kinderkrippenplätze, Gesundheitswesen, Gewerkschaftsarbeit.
Am Sonntag, dem 10.Juni, fand in Poznan eine Demonstration statt, zu der unterschiedliche linke Gruppierungen, feministische Verbände und Gewerkschaften aufgerufen hatten. Parteien waren nicht erwünscht. Alle waren leider nicht gekommen, so auch die Gewerkschaft «August 80».
Polens Städte und Kommunen sind immer stärker verschuldet, immer mehr soziale und kommunale Sparmaßnahmen werden auf dem Rücken der Menschen durchgesetzt. Es heißt, es sei kein Geld da. Das regt die Menschen auf, denn es scheint doch Geld da zu sein, und sie möchten mitbestimmen, wofür es ausgegeben wird. Die Menschen wollen das zurück haben, was ihnen auf undemokratische Weise genommen wird. Allein das Stadion in Poznan hat 750 Millionen gekostet worden – für ganze drei EM-Spiele.
Dagegen wurden in den Jahren 1995–2009 nur 638 kommunale Wohnungen gebaut. Bei Kliniken, Schulen, Theatern und Kindereinrichtungen kämpfen die neoliberalen Eliten um die strikte Einhaltung der Sparvorgaben, aber für Fussballstadien verschulden sich die Städte.
Am 10.Juni versammelten sich in Poznan also gegen 14 Uhr vor der Oper etwa 1000 Menschen zur Auftaktveranstaltung. Auf dem Weg durch die Stadt waren immer wieder Sprechchöre zu hören: «Brot, Brot, Brot statt Spiele», «Erst die Menschen, dann die Profite!» «Wohnungen für Menschen, nicht für Profite!» Sie skandierten auch: «Freiheit, Würde und gegenseitige Hilfe!» Hört, hört! Früher nannten sie das Solidarität, doch das Verhalten der Gewerkschaft Solidarnosc lässt sie dieses Wort nicht mehr in den Mund nehmen. Immer wieder berichteten Teilnehmer während der Demo über ihre Erfahrungen und Kämpfe.
Drei Stunden später endete die Demonstration vor dem Sitz der Wojwodschaft, der Bezirksverwaltung, mit einer Kundgebung. Am Ende verteilten die unterschiedlichen Veranstalter sinnigerweise Brot an die Demonstranten.
Erstaunlich war, dass diese Demonstration von Polizisten in Zivil begleitet wurde, die eine Weste mit der Aufschrift «Policja – Konfliktbetreuer» trugen.
Wohnungen
Frau B. aus Warschau ist mit einigen Mitgliedern des «Warschauer Mietervereins» angereist. «Wir sind im Frühjahr durch Warschau mit 2000 Bewohnern marschiert, um auf die Probleme aufmerksam zu machen. Die Stadt hat die Absicht, jährlich 50000 kommunale Wohnungen zu verkaufen.»
Wo sollen die Leute hin, frage ich. «Das weiß ich nicht. Ich und mein Mann haben beide Arbeit. Aber der Lohn reicht nicht, um eine eigene Wohnung ins Auge zu fassen. Kommunale oder gar soziale Wohnungen werden nicht gebaut. Um die Menschen schert sich niemand.» Eine Art, die Mieter loszuwerden, sind Mieterhöhungen, ohne dass etwas am Zustand der Wohnungen verbessert wird. Im Gegenteil, immer wieder gibt es Havarien bei Strom, Wasser oder Gas. Wenn private Eigentümer die Häuser übernehmen, gibt es keine Absprachen mit den Mietern, und die Stadt, der vorher das Gebäude gehörte, hält sich vollkommen raus.
Frau M. aus Poznan erzählt: «50 Jahre habe ich im gleichen Haus gewohnt, seit meiner Heirat. Ich habe immer pünktlich die Miete bezahlt. Und jetzt soll ich aus dem Haus raus!? Ich ziehe nicht aus. Ich organisiere mich. Ich kämpfe mit anderen um mein Recht auf eine würdige Wohnung, ich will nicht auf die Straße oder im Container wohnen!»
Frau K. aus Krakau nimmt eine ähnliche Haltung ein: «Ich kann euch allen nur raten, in eurer Stadt einen Runden Tisch für Mieterinteressen zu bilden. In Krakau haben wir das gemacht. Wir bemühen uns, die gravierendsten Probleme an die Stadt heran zu tragen. So hoffen wir, auf Dauer eher Erfolge zu erzielen.»
Herr Z. aus Danzig berichtet: «Auf die Bewohner der renovierungsbedürftigen Häuser der Stadt fielen im vergangenem Herbst vom Himmel nicht Bomben, sondern hundertprozentige Mieterhöhungen! Der Präsident der Stadt ist der Auffassung, wir sollten langsam aufwachen, es wären nicht mehr die Zeiten Volkspolens, und wir sollten mal ordentlich Miete zahlen, damit eines Tages an den Häusern aus der Vorkriegszeit etwas gemacht werden kann. Dabei werden Millionen für irgendwelche vorübergehenden Bauten im Zusammenhang mit der EM ausgegeben!»
Herr M. von einem Theaterprojekt in Poznan erzählt: «Wir haben viele Projekte mit Partnern in anderen Ländern und Städten – auch mit Behinderten in Berlin – durchgeführt. Jetzt wird das Geld gestrichen. Wir wissen nicht, wie es weiter gehen soll.» Seine Frau geht noch weiter: «Sehen Sie sich unsere Schulen an, den Sportunterricht! Wozu die Stadien, wir werden auf diese Art niemals einen Nachwuchs bekommen. Bei den Weltmeisterschaften wurde kolportiert: ,Wenn Podolski Polen nicht verlassen hätte, ja was wäre dann passiert? Dann wäre er kein guter Fußballer geworden, denn in Polen gibt es keine Bedingungen dafür!'»
Ihre Freundin: «Das Geld reicht hinten und vorne nicht, warum wollten die Eliten unbedingt die EM hierher holen? Wir können es uns nicht leisten! Wir zahlen nicht nur für die Krise, sondern auch die Rechnung für diese Spiele!»
Kinderkrippen
Eine Rednerin auf der Kundgebung sagte, die Familienpolitik der Regierung würde mit dazu beitragen, dass kein Nachwuchs da sein wird, um die Renten zu zahlen. Frau M. aus Poznan, Erzieherin in einer Kinderkrippe meinte dazu: «Heute warten die Eltern eineinhalb bis zwei Jahre auf einen Krippenplatz. Seit Jahren wurde nichts in die Ausstattung investiert, und auch der bauliche Zustand der Einrichtungen lässt zu wünschen übrig.»
«Wie sieht es mit eurer Bezahlung aus?», frage ich angesichts eines Transparents, das Ministerpräsident Tusk auffordert, für 1500 Zloty (rund 353 Euro) in einer Kinderkrippe zu arbeiten. Roma, ebenfalls Erzieherin, erzählt, dass es bis 2009 regelmäßige Lohnanpassungen gab, seither aber keine mehr. «Auf Anfrage teilte uns der Stadtpräsident mit, dass wir vor 2032 nicht mehr mit Lohnerhöhungen zu rechnen brauchen! Also müssen wir endlich überall eine Gewerkschaft gründen.» Ab zehn Beschäftigten darf eine Gewerkschaftsgruppe gebildet werden. Ab 150 Mitgliedern steht ihnen ein Freigestellter zu.
Wie sehen die Arbeitsbedingungen aus, frage ich. M. antwortet: «Wo früher 17 Kinder waren, sind heute mindestens 24. Also ist es eng und schwierig, mit den Kindern adäquat zu arbeiten. Dann fehlen uns Material und Reinigungsmittel, wir von der Gewerkschaft der Arbeiterinitiative mussten erst mit Streik drohen, um das Material zu erhalten.»
Abschließend interessiert mich noch, ob sie bei der Arbeitsgruppe für Kinderkrippen des Gesundheitsamts Poznan mitmacht. Ja, sagt M.: «Wir bemühen uns, die Unterhaltskosten für die Krippen zu verringern. 200.000 Zloty konnten wir einsparen. Das ist nicht viel, aber dadurch, dass wir dabei sind, haben wir wenigstens Einfluss darauf, wo eingespart wird.»
Die Krankenschwester Barbara gibt uns einen kleinen Einblick in die Situation des Gesundheitswesens: «Ich war einige Zeit zu Hause, weil ich mich um meine pflegebedürftigen Eltern kümmern musste. Jetzt habe ich wieder Arbeit gesucht. Ich ging zum Kreiskrankenhaus und war erstaunt, dass der dortige Chef ein ehemaliger Solidarnosc-Funktionär ist. Wahrscheinlich wollen sie die Klinik privatisieren. Er meinte, er würde mich einstellen, aber nicht nach dem Arbeitsrecht, sondern auf Vertragsbasis, also quasi wie eine Ich-AG. Ich bekomme 25 Zloty [rund 5,90 Euro] die Stunde, kann arbeiten, ohne auf die gesetzlich vorgeschriebenen Zeiten zu achten, und muss davon natürlich Steuern, Versicherung, Rente, Urlaub selbst tragen.» Nur 25 Zloty?, frage ich verwundert und Barbara meint: «In meiner Stadt bekäme ich nur 17 Zloty [4 Euro].»
Aber was ist mit den ganzen Abgaben und Versicherungen? «Tja, leider gibt es Kolleginnen, die kaum freie Tage nehmen, viele Stunden arbeiten und oft nicht daran denken, dass sie auch mal krank werden könnten und nur das viele Geld sehen.» Barbara nahm die Arbeit trotzdem an. «Ja, was sollte ich machen? Vielleicht kann ich auf Kolleginnen, die unter den gleichen Bedingungen arbeiten, Einfluss nehmen, dass sie an ihre Gesundheit und Zukunft denken.»
Die Gewerkschaft OZZIP
Aus der Region Wroclaw ist eine Gruppe angereist, die es bei der Firma Chung Hong (EMS) geschafft hat, eine Gewerkschaftsgruppe der OZZIP (Arbeiterinitiative) zu gründen. Sie montieren Teile für Fernsehgeräte der Marke LG. Im Vorfeld hat der Arbeitgeber versucht, die Aktivisten einzuschüchtern. Ich spreche mit einigen von ihnen, Kasia, Lukas, Jola, Mateusz über ihre Aktivitäten.
Zunächst interessiert mich, welche Probleme gibt es. Kasia meint: «Wenn wir die Norm nicht erfüllen, müssen wir an einem freien Tag nacharbeiten, und wenn wir sie erfüllen, gibt es keine Prämie, eher wird die Norm herauf gesetzt. Oft sind die Kollegen nicht schuld, wenn die Norm nicht erfüllt wird – meist liegt es an der Organisation bzw. am Fehlen von Teilen.» Sein Kollege Lukas ergänzt, «Es hängt aber auch damit zusammen, dass neue Leute eingestellt werden, sie aber nicht geschult werden und es so am Band zu Verzögerungen kommt.»
Warum sie eine Gewerkschaft gegründet haben, will ich wissen. «Die Arbeitsbedingungen haben sich ständig verschlechtert», antwortet Lukas, «der Sozialfonds wurde abgeschafft. Immer mehr Kollegen wurden über Zeitverträge oder Fremdfirmen eingestellt. Die Löhne sind seit längerem nicht erhöht worden, und es gibt Kollegen, die unter Mindestlohn bezahlt werden.» Außerdem wurden «alle zusätzlichen Lohnformen liquidiert», so Kasia, «und uns wurde gesagt, wir sollten froh sein, dass es diese Firma überhaupt gibt, für die wir arbeiten können. Der Direktor von Chung Hong sagt uns immer wieder, das wichtigste wäre, zur Arbeit zu kommen.»
Kasias Kollegen Jola und Mateusz mischen sich ein. «Die Ausgaben für den Arbeitsschutz werden ständig gekürzt, sodass wir zeitweise bei 33 Grad arbeiten müssen, weil die Klimaanlagen nicht funktionieren.» «Wir waren uns klar darüber, dass wir unsere Kräfte bündeln müssen, um gegen den Arbeitgeber zu bestehen. Bei der Arbeiterinitiative gefielen uns die nichthierarchischen Strukturen. Die großen Gewerkschaften kümmern sich nicht um solche internationalen Firmen, die in einer speziellen Wirtschaftszone angesiedelt sind. Hier sind starke Arbeitgeber und kaum fest angestellte Beschäftigte. Auch wir hatten Probleme die Kolleginnen und Kollegen auch zeitlich unter einen Hut zu bekommen. Aber jetzt sind 73 Kolleginnen und Kollegen in unserer Gewerkschaft.»
Mich interessiert die Reaktion des Arbeitgebers. «Der Arbeitgeber verhindert unsere Aktivitäten, wo er nur kann», erzählt Jola. Dadurch haben manche Arbeiter den Eindruck, dass wir nichts tun. Bisher haben wir von ihm keine Verträge zu sehen bekommen, auf deren Grundlage wir unsere Arbeitsrechte durchsetzen könnten. Immer mehr Beschäftigte haben Zeitverträge – im Augenblick ist es die Hälfte. Wir haben keine Ahnung, wie wir dagegen vorgehen können, weil die Gesetze leider so sind. Wir sind uns aber auch klar darüber, dass wir allein nicht viel erreichen können. Wir müssen uns anstrengen, weitere Arbeiter zu mobilisieren, auch wenn es schwierig ist, wohnen die Kollegen doch weit voneinander entfernt. Aber nur mit gemeinsamen Kräften werden wir unsere Situation ändern können.»
Zuletzt will ich noch wissen, warum sie zur Demonstration nach Poznan gekommen sind. Dazu meint Kasia: «Es ist die Politik, die solche Gesetze schafft, die es dem Arbeitgeber erlauben, mit uns auf diese menschenverachtende Art umzugehen. Und die Regierung tut nichts anderes, als die EM ins Land zu holen und die Kosten auf die Menschen abzuwälzen und die Sozialausgaben zu kürzen.»
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.