Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2012
Comandante der Revolution (FSLN)

von Matthias Schindler

Am 30.April 2012 starb Tomás Borge. Im Alter von 81 Jahren erlag der nicht unumstrittene Revolutionär und spätere Innenminister im Militärhospital der nicaraguanischen Hauptstadt Managua einem Lungenleiden.

Nach dem Sieg über die Somoza-Diktatur am 19.Juli 1979 verlieh die Nationale Führung der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN ihren neun Mitgliedern den Ehrentitel «Comandante de la Revolución». In den zehn folgenden Jahren standen diese neun Männer bei jeder größeren Kundgebung einträchtig nebeneinander auf der Tribüne, und Tomás Borge ließ sich bei diesen und vielen anderen Gelegenheiten als einziges überlebendes Gründungsmitglied der FSLN feiern.

Kürzlich jedoch erklärte Víctor Tirado, ebenfalls einer dieser neun Comandantes, dass auch er Gründungsmitglied der FSLN war, und seither wurden weitere noch lebende Menschen aus der Gründergeneration der FSLN namentlich bekannt, z.B. Edén Pastora, der die sandinistische Revolution zwischendurch einige Jahre lang bewaffnet bekämpfte und gegenwärtig wieder einen lukrativen Posten in der Regierung Ortega besetzt.

Es ist nicht bekannt, wer das Märchen vom «einzig überlebenden Gründer» erfand und warum viele, die es besser wussten, so lange geschwiegen haben. Offensichtlich gefiel es den nicaraguanischen Führern, Mythen zu schaffen.

Gioconda Belli, eine weit über Nicaragua hinaus anerkannte Schriftstellerin, die sowohl am Befreiungskampf beteiligt war als auch an der späteren sandinistischen Regierung, schrieb noch an Borges Todestag in einem heftig diskutierten Nachruf: «Was mir von Tomás bleibt, ist eine Erinnerung der Zuneigung. Niemals konnte ich Verachtung oder Hass für ihn empfinden, und ich sah mich auch nicht in der Position, ihm Vorwürfe zu machen, denn im Inneren meiner Seele hatte ich Verständnis dafür, dass er nicht alleine stehen wollte, dass er der bleiben wollte, der er einmal in der FSLN gewesen ist, selbst wenn dies bedeuten sollte, dass der Geschichte die Aufgabe zufiele, eine unzureichende Gegenwart durch seine Verdienste in der Vergangenheit aufzuwiegen.»

Am 1.Mai wurde der Tote im Nationalpalast aufgebahrt, Tausende defilierten an ihm vorbei. Es waren überwiegend junge Leute, viele kamen als Gruppen in weißen T-Shirts mit rosavioletten Aufdrucken wie «Liebe, Friede, Leben» – Rosaviolett ist die Modefarbe der Regierung Ortega/Murillo. Es kamen aber auch ältere Menschen um sich von einem Freund zu verabschieden oder einem historischen Kämpfer ihren Respekt zu bezeugen. Viele kannten sich und freuten sich offensichtlich über ihr Wiedersehen. Die Schlange auf dem Platz der Revolution war 300–400 Meter lang, man musste eine Wartezeit von einer Stunde oder mehr in Kauf nehmen, um einen letzten Blick durch das geöffnete Sargfenster auf den Toten werfen zu können. Einige nahmen ein Foto von seinem Antlitz, und manche kommentierten gehässig, dass sie sich definitiv von seinem Tod überzeugen wollten. Noch am gleichen Abend wurde auf dem Platz der Revolution ein Konzert mit den Liedern der sandinistischen Revolution gegeben.

Am Folgetag war es ab 12 Uhr in Managua nicht mehr möglich, einen Bus oder ein Taxi zu bekommen, weil der gesamte Personentransport darauf ausgerichtet war, die Menschen zu den Begräbnisfeierlichkeiten für Tomás Borge zu fahren. Vor allen Ministerien waren Busse vorgefahren, um die öffentlichen Angestellten zur Teilnahme zu nötigen. Am Abend wurde Tomás Borge dann neben dem Gründer und geistigen Vater der FSLN, Carlos Fonseca Amador, beigesetzt.

Worin lag die Bedeutung Tomás Borges?

Tomás Borge, klein von Statur, war zweifellos ein großer Revolutionär. Er beteiligte sich seit den ersten Anfängen führend am bewaffneten Befreiungskampf gegen die brutale Diktatur des Somoza-Clans (1934–1979). Er wurde mehrfach von der Nationalgarde eingekerkert und schwer gefoltert, ohne jemals etwas über seine Kampfgefährten oder die FSLN zu verraten. Danach gefragt, wie er die erlittenen Qualen seinen Peinigern zurückzahlen wolle, antwortete er, er werde sich an ihnen rächen, indem er ihnen verzeiht.

Nach dem Triumph der Revolution stach er auf vielen Kundgebungen unter den neun Comandantes als begnadeter Redner hervor. Und keiner von ihnen konnte auch nur annähernd so gut schreiben wie er. Zeitweise war er innerhalb Nicaraguas sicherlich nicht nur der bekannteste, sondern auch der beliebteste Repräsentant der sandinistischen Revolution.

Mehr als einmal wurden Forderungen laut, er solle das Präsidentenamt, später auch die Parteiführung, übernehmen. Jedoch konnte sich bei allen diesen Gelegenheiten immer Daniel Ortega gegen ihn durchsetzen, der es immer vorzog, hinter den Kulissen die Strippen zu ziehen.

Als Innenminister erwarb sich Tomás Borge Verdienste beim Aufbau einer volksnahen Polizei. Unter dem Eindruck einer immer stärkeren politischen, wirtschaftlichen und militärischen Aggression seitens der US-Regierung schuf er aber auch den gefürchteten Geheimdienst DGSE, der nach den Enthüllungen des schwedischen Journalisten Peter Torbjörnsson im Jahr 1984 sogar zum Mittel eines Bombenanschlags auf eine Pressekonferenz von Edén Pastora griff, bei dem sieben Menschen getötet und zwanzig verletzt wurden. Dennoch blieb das Verzeihen das Grundmotiv der regierenden Sandinisten, was zu immer neuen Wellen von Amnestie für vormalige Kämpfer der Contra (Konterrevolution) führte, die häufig von Borge verkündet wurden.

Nach der Abwahl der Sandinisten 1990 konzentrierte sich die Macht innerhalb der FSLN immer mehr in den Händen von Daniel Ortega und später auch von dessen Frau Rosario Murillo. Borge übernahm nur noch dekorative Posten und hatte keinen großen politischen Einfluss mehr. Bis zu seinem Tode war er Parlamentsabgeordneter und Botschafter Nicaraguas in Peru.

Während er sich vollkommen mittellos der Revolution angeschlossen hatte, soll er seinen Angehörigen nach seinem Tod ein Millionenvermögen hinterlassen haben. Aktivistinnen der Frauenbewegung und Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen kritisieren vor allem sein erniedrigendes Verhalten gegenüber Frauen, für das es seit seiner Beteiligung an der Guerilla bis ins hohe Alter zahlreiche Zeugnisse gibt.

Es wird sicherlich noch vieler Jahre und intensiver Forschung bedürfen, um die tatsächliche gesellschaftliche Rolle von Tomás Borge zwischen unnachgiebigem Kampf und politischer Vision, Humanismus und Missbrauch, revolutionärer Aufrichtigkeit und Korruption, Bescheidenheit und Eitelkeit in ihrer ganzen Tiefe, Vielfältigkeit und auch inneren Widersprüchlichkeit zu ergründen.

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