Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2012
Vom Kampf um das Recht, Missstände anzuzeigen
von Benedikt Hopmann

Am 24. Mai 2012 endete nach siebeneinhalb Jahren der Rechtsstreit zwischen Brigitte Heinisch und Vivantes, einem großen Klinikkonzern in Eigentum des Landes Berlin. Brigitte Heinisch war Altenpflegerin in einem Altenpflegeheim von Vivantes.

Vivantes hatte Brigitte Heinisch am 9.Februar 2005 fristlos gekündigt – wegen »des dringenden Verdachts der Initiierung eines Flugblattes«. Und weil Brigitte Heinisch einen Anwalt gebeten hatte, gegen ihren Arbeitgeber Vivantes bei der Staatsanwaltschaft Anzeige zu erstatten – Strafanzeige wegen besonders schweren Betrugs.

Im Schreiben ihres Anwalts heißt es wörtlich: «Gleichzeitig dient die Strafanzeige der Entlastung meiner Mandantin, da sie die Vivantes GmbH vielfach auf die bestehenden Missstände aufmerksam gemacht hat, indes keine Änderung herbeigeführt wurde, und schlimmstenfalls auch meine Mandantin ein aufgrund der Missstände potentiell gegen sie einzuleitendes Ermittlungsverfahren zu gewärtigen hätte ... Den für die Unterbringung in der genannten Einrichtung aufgebrachten Kosten steht keine auch nur annähernd adäquate Gegenleistung gegenüber ... Eine ausreichende pflegerische und hygienische Versorgung der Bewohner ist aufgrund des bestehenden Personalmangels nicht gewährleistet ... [Es] liegt nicht nur, wie der Medizinische Dienst der Krankenkassen festgestellt hat, eine mangelhafte Dokumentation des Pflegeprozesses vor, sondern die Pflegekräfte werden angehalten, Leistungen zu dokumentieren, die so gar nicht erbracht worden sind...»

Der lange Weg durch die Gerichte

Brigitte Heinisch klagte gegen die Kündigung und hatte damit in der 1. Instanz vor dem Arbeitsgericht Berlin Erfolg. Die Äußerungen im Flugblatt seien vom Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt. Der Wortlaut sei zwar polemisch, beruhe aber auf objektiven Tatsachen und beeinträchtige das Arbeitsklima nicht.
Die nächste Instanz, das Landesarbeitsgericht Berlin, hob das Urteil jedoch wieder auf. Das Landesarbeitsgericht berücksichtigte erstmals die Strafanzeige und rechtfertigte die Kündigung damit, und nicht mehr mit dem Flugblatt. Brigitte Heinisch habe die Strafanzeige auf Tatsachen gestützt, die sie im Laufe des Prozesses nicht habe beweisen können. Deswegen sei die Anzeige ein «grober Verstoß gegen ihre arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflichten». Insbesondere reiche der behauptete Personalmangel nicht aus, um einen Abrechnungsbetrug anzuzeigen. Dies ergebe sich auch daraus, dass die Staatsanwaltschaft keinerlei Ermittlungen eingeleitet habe. Das Landesarbeitsgericht hatte von Brigitte Heinisch die Namen von Kolleginnen verlangt, die nicht erbrachte Leistungen dokumentierten.

Heinisch reichte Beschwerde beim Bundesarbeitsgericht ein. Das Bundesarbeitsgericht wies diese zurück. Heinisch reichte Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Annahme der Beschwerde ohne Begründung ab. Dann reichte Brigitte Heinisch Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein.

Jetzt bekam das Verfahren eine andere Dimension: Brigitte Heinisch wehrte sich nicht mehr gegen einen einzelnen Konzern, sondern gegen Deutschland. Jetzt ging es darum, ob die rechtlichen Regelungen und die darauf beruhende Rechtsprechung in Deutschland die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention erfüllen. Es ging nicht um eine Kleinigkeit.

Die Strafanzeige ist eine Meinungsäußerung. Es ging also um das Menschenrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung. Ein Recht, das nicht nur in der deutschen Verfassung, sondern auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 10) niedergelegt ist. Dieses Recht lehnt sich wiederum der Geschichte und dem Wortlaut nach eng an die UNO-Menschenrechtscharta an.

Das Bundesverfassungsgericht wird nicht müde, die überragende Bedeutung der Meinungsfreiheit für das Funktionieren einer Demokratie hervorzuheben. Und jetzt beschwerte sich eine Altenpflegerin, weil Deutschland dieses Recht verletzte. Deutschland, dessen Regierungsvertreter so gern auf Staatsbesuchen in aller Welt die Einhaltung der Menschenrechte anmahnen.

Brigitte Heinisch ist eine Whistleblowerin. Sie wurde deswegen im Jahre 2007 von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) und von der internationalen Juristenvereinigung IALANA mit dem Whistleblower-Preis ausgezeichnet. In Überlastungsanzeigen hatte Brigitte Heinisch gegenüber ihrem Arbeitgeber schwere Missstände in der Pflege angezeigt. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen hatte diese schweren Missstände in seinen Überprüfungsberichten mehrfach bestätigt. Aber weil nichts besser, sondern die Missstände eher noch schlimmer wurden, sah Brigitte Heinisch keinen anderen Ausweg als ihren Arbeitgeber bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen.

Vor dem Betriebstor hört die Meinungsfreiheit auf?

In der Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg ging es also um einen besseren Schutz des «Whistleblowing». Brigitte Heinisch wollte wissen, ob und in welchem Umfang das Menschenrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung auch im Betrieb gilt. Darf eine Beschäftigte ihren Arbeitgeber bei der Staatsanwaltschaft anzeigen? Auch dann, wenn sich später herausstellen sollte, dass einzelne Behauptungen in der Strafanzeige nicht richtig oder nicht aufklärbar sind?

«Ja, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 21.Juni 2011: Die Kündigung vom 9.Februar 2005 verletzte das Menschenrecht von Brigitte Heinisch, ihre Meinung frei zu äußern. Der Gerichtshof verurteilte die Bundesrepublik Deutschland zu 10000 Euro Schadenersatz und 5000 Euro für Kosten und Auslagen, beides an Brigitte Heinisch zu zahlen.

Brigitte Heinisch durfte demnach also ihren Arbeitgeber anzeigen, sie machte nicht wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben. Denn auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen hatte bei seinen Kontrollen schwere Pflegemängel festgestellt. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen hatte in seinen Berichten auch darauf hingewiesen, dass es der Personalmangel war, der zu Pflegemängeln geführt hatte.

Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe aus einer Strafanzeige zu prüfen. Eine Person, die in gutem Glauben eine solche Anzeige erstattet hat, kann nicht vorhersehen, ob die Ermittlungen zu einer Anklage oder einer Verfahrenseinstellung führen werden. Heinisch hatte ihren Arbeitgebern die Missstände zunächst betriebsintern angezeigt, bevor sie Strafanzeige erstattete. Sie hat damit ihre «Loyalitätspflicht» erfüllt.

In Gesellschaften, in denen ein ständig wachsender Teil der älteren Bevölkerung auf Pflegeeinrichtungen angewiesen ist, ist die Verbreitung von Informationen über Qualität oder Mängel solcher Pflege zur Missbrauchsverhinderung von grundlegender Bedeutung und öffentlichem Interesse. Dabei ist zusätzlich die besondere Verwundbarkeit der Heimbewohner zu berücksichtigen, die oft nicht in der Lage sind, aus eigener Initiative die Aufmerksamkeit auf Pflegemängel zu lenken.

Kein Schutz für Whistleblower in Deutschland

Die Bundesregierung folgte nicht der Aufforderung von Arbeitgeberpräsident Hundt und legte keine Rechtsmittel ein. Heinisch beantragte in Deutschland die Wiederaufnahme der Verfahren beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg und die Aufhebung der Urteile dieses Gerichts. Am 24.Mai 2012 fand die mündliche Verhandlung statt. Um weitere langwierige gerichtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden, einigten sich die Parteien auf einen Vergleich. Brigitte Heinisch erhielt eine Abfindung von 90000 Euro brutto. Wegen zwischenzeitlicher Tätigkeit in einem anderen Unternehmen und Erwerbsminderung war das mehr, als sie nach gewonnenem Verfahren an entgangenem Lohn inklusive Zinsen hätte einklagen können.

Whistleblower wie Brigitte Heinisch sind mutige Menschen. Wie können Menschen, die diesen Mut haben, besser geschützt werden? Welche gesellschaftlichen Bedingungen führen zur Angst, Missstände und Gefahren bekannt zu machen? Die Kolleginnen von Brigitte Heinisch waren nicht dazu verpflichtet, sich von ihr nach der Kündigung in einer schriftlichen Erklärung zu distanzieren. Sie taten es trotzdem. Auf Drängen der Pflegedienstleitung. Aus Angst. Das sind keine Fragen zur «Kultur des Miteinander», sondern Fragen der Macht- und Eigentumsverhältnisse. Wir fordern von den Unfreien, sich frei zu äußern. Das ist das Problem. Die abhängig Beschäftigten sind nicht frei.

Der Europäische Gerichtshof weist ausdrücklich auf die im deutschen Recht fehlenden Bestimmungen zum Schutz von Whistleblowern hin. Deutschland hat bisher noch nicht einmal eine Reihe internationaler Abkommen zum besseren Schutz von Whistleblowern ratifiziert. Die LINKE hat ein sehr gutes Gesetz zum besseren Schutz von Whistleblowern im Bundestag eingebracht. SPD und GRÜNE sind gefolgt. Man wird sehen, was daraus wird.

Siehe auch: Brigitte Heinisch/Benedikt Hopmann, «Altenpflegerin schlägt Alarm». Über das Recht, Missstände anzuzeigen, Hamburg: VSA, 2012, 6 Euro.

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