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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2012

Die Situation freier Theater in den Niederlanden und in Deutschland

Tanja Schultz spach mit Alexander Kaschniar von «andcompany&Co.» über ihr neues Stück «Der (kommende) Aufstand nach Friedrich Schiller», politisches Theater und die aktuelle Lage der Subventionsvergabe in den Niederlanden und Deutschland.

Wie ist es zu eurer aktuellen Produktion gekommen? Die holländischen Perfomer, die an der Produktion mitwirken, ist das eine feste Kerngruppe, wie ihr es seid oder sind das einzelne Schauspieler?

Wir sind ein holländisch-flämisch-deutsches Team: Dieses Mal waren nur Sascha und ich auf der Bühne, Nikola war unser Außen, unsere erste Zuschauerin und Kritikerin: unsere Regisseurin. Mit uns war Joachim Robbrecht auf der Bühne, der selbst als Regisseur arbeitet und eigene Stücke schreibt, außerdem zwei niederländische Schauspieler, die sowohl frei, als auch mit festen Gruppen arbeiten (Warme Winkel), zwei Schauspieler vom Ensemble des Staatstheaters Oldenburg, die das Stück koproduziert haben, und zwei Musiker aus Rotterdam und Antwerpen: neun Männer auf der Bühne und eine Frau, die draußen sitzt – also eine ziemlich heterogene Gruppe!

Gab es an den diversen Orten unterschiedliche Reaktionen auf die Performance?

In Amsterdam, Rotterdam und beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel waren die Reaktionen euphorisch, es gab jedes Mal stehende Ovationen. In Oldenburg gab es dagegen einen kleinen Skandal wegen eines «pimelnakten» Schauspielers, wie die anwesende holländische Presse amüsiert feststellte: «Ohne Hose in die Hose» titelte eine der Lokalzeitungen, eine andere sah «das Justiziable gestreift». Zuschauerinnen verließen fluchtartig den Saal, eine schaltete das Jugendamt ein. Während in Berlin nach so einer Presse die kommenden Vorstellungen ausverkauft gewesen wären, blieben sie in Oldenburg leer – bis auf Festivals wie PAZZ (performing arts festival).

Es ist ja kein Zufall, dass ihr jetzt mit Texten von Friedrich Schiller gearbeitet habt. Bitte erläutert mal kurz die unterschiedliche Entwicklungen, welche die deutsche und die niederländische Theaterszene nach 1968 genommen haben.

Zuerst wäre zu sagen, wie das Theater nach 1945 weitergegangen ist. In Deutschland gab es keinen nennenswerten Bruch mit dem Staat- und Stadttheatersystem («Theater muss sein!»), während in den Niederlanden von der deutschen Besatzung das Subventionssystem übernommen wurde, das es vorher so in den Niederlanden nicht gab. Dagegen gab es dann 1968/69 eine Rebellion, berühmt-berüchtigt ist die Aktie Tomaat, wo Tomaten (und später auch Rauchbomben) gegen die verstaubten Inszenierungen geworfen wurden. Nach jeder Aufführung wurde ausgiebig diskutiert.

Diskutiert wurde 1968 auch in Deutschland viel, es wird sowieso gerne in deutschen Theater diskutiert, in Holland dagegen wurde als Reaktion auf Aktie Tomaat die gesamte Kulturförderung umstrukturiert, so dass in den letzten vierzig Jahren nicht nur die Institutionen gefördert wurden, sondern unmittelbar Künstler, vor allem auch Gruppen und Kollektive. Dieses System, das für uns als freie Gruppe immer sehr begehrenswert war, wird gerade durch massive Budgetkürzung abgeschafft. Es geht also wieder zurück zu den Strukturen der Besatzungszeit, wenn man so will. Das ist eine Aussage aus unserem Stück.

Die Produktion steht ja in einem besonderen kulturpolitischen Zusammenhang, der jetzt durch das Buch von Dieter Haselbach Der Kulturinfarkt, von allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik auch in Deutschland angekommen ist. Was war in Holland los, wie ist es jetzt und wie sehen die Aktionen des Bündnisses der freien Szene in Deutschland aus?

Diese unsägliche Kulturinfarkt-Debatte ist sicherlich auch ein Resultat der holländischen Kürzungen. Die Holländer sind uns ja oft einen Schritt voraus, sowohl was die Liberalität, als auch was die Abschaffung der Liberalität betrifft. Was in Holland durchgezogen wird und was die Autoren jenes Buches für Deutschland empfehlen, ist eine Art Schocktherapie für die Kultur: In den Niederlanden wird im Theaterbereich mehr als 50% gekürzt, alle 23 freien Produktionshäuser kriegen keine Förderung mehr, nur noch einige wenige sog. Top-Institute, die mit einem Ensemble ausgestattet werden und Repertoire spielen sollen.

Eigentlich sind wir da in Deutschland schon weiter gewesen, hier haben die verkrusteten Staatstheaterstrukturen gerade begonnen, sich für die sog. «freie Szene» zu öffnen, bzw. wahrzunehmen, dass wir längst in einer Art «dualem System» leben. Nun gibt es verschiedene Kooperationen, wie auch dieses Projekt eine war, aber auch hysterische Abgrenzungsversuche von beiden Seiten und Verteilungskämpfe. Denn natürlich ist das ökonomische Ungleichgewicht zwischen den beiden Seiten immens!

Versteht ihr das Politische als etwas, das dazu führt, politisches Theater zu machen, also etwas, was sich in die performerische Praxis verlagert? Und wenn ja, welche Hoffnungen oder Erwartungen habt ihr an den öffentlichen Raum Theater, Performance und die Formen von Kooperation?

Politisch Theater machen heißt für uns, dass es nicht nur um politische Inhalte gehen kann, sondern dass wir uns auch immer wieder neu der Formfrage stellen müssen.

Manchmal wird die Formfrage auch von außen gestellt, wie momentan die Einführung des sog. «human microphone» durch die Occupy-Bewegung (jeder Redebeitrag wird von der Versammlung kollektiv, wie ein Chor, wiederholt), das seit einem halben Jahr in aller Munde ist. Das ist eine wirklich verblüffende plausible Form der basisdemokratischen Kommunikation, die auch ein ästhetisches Potenzial hat. Ein demokratischer Chor, der ganz anders spricht als die Chöre, die wir in den letzten dreißig Jahren zu hören bekommen, die eher einen militärisch-autoritären Hintergrund haben (und diesen dabei vorführen wie die unnachahmlichen Chöre von Einar Schleef).

Wie aber reagiert nun das Theater darauf, wenn auf der ganzen Welt auf einmal eine solche gemeinsame Rede entsteht? Wir haben das sofort auf der Bühne angewandt und uns auch ein Stück weit angeeignet. Wir halten das für wesentlich legitimer, als einen Occupy-Chor im Museum auszustellen. Das entspricht nicht unserer Vorstellung von politischer Kunst. Die Kunst sollte nicht leichtfertig ihre Autonomie opfern, um Politik zu machen, wie das in Berlin gerade mit desaströsen Folgen auf der Biennale demonstriert wird.

Wir begreifen die Bühne als ein Experimentierfeld mit eigenen Regeln und Gesetzen, die sich immer wieder aus jeder Arbeit neu ergeben, auch wenn klar ist, dass wir jedes Thema mit einer eminent politischen Haltung angehen. Und natürlich erhoffen wir uns einen Effekt auf die outside world, die Welt da draußen – so haben wir im September letzten Jahres an einer Demonstration der Gewerkschaften und Künstler in unseren Bettlerkostümen teilgenommen und den «Opstand», den Aufstand, ausgerufen.

Wir denken durchaus, dass es an der Zeit wäre für eine neue Bürgerbewegung im Stile der Geuzen in Brüssel. Das hatte ja fast schon was von einer popaffinen Kulturrevolution, wie sich dort ganz normale Bürger als Bettler verkleidet haben, um sich mit dem Souverän anzulegen, nachdem der sie als «Bettler» beschimpft hatte (solche Aneignung diskriminierender Bezeichnungen nennt man seitdem mit "Geuzennamen": Pirat, Punk, slut etc.).

Heute behandeln ja Regierungen auf der ganzen Welt ihre Bürger wie Bettler, besonders die guten alten Kulturbürger. Deswegen ist es auch wichtig, die Stadttheater in Deutschland zu verteidigen und nicht auf das neoliberale Gerede hereinzufallen, daher lautet wohl die Devise: Occupy a Theater in Every City! Besetzt ein Theater in jeder Stadt!

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