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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2012
Europa muss sozial und solidarisch sein!
von Andrej Hunko

Bis zu zweijährige Kontrollen an den EU-Binnengrenzen sind eine Absage an die innereuropäische Reisefreiheit. Der Rat der Innen- und Justizminister beschloss Anfang Juni neue Regelungen zum sog. Schengen-Abkommen. Dabei wird an jenem Grundpfeiler gerüttelt, für den sich die Europäischen Union allerorten rühmt: die Reisefreiheit als eine der wenigen spürbaren Errungenschaften der EU.

Inner-EU-Grenzen dürfen seit 1995 ohne anzuhalten überquert werden. Auch die Nationalität der Reisenden soll dabei keine Rolle spielen. Gleichwohl wurden damals sog. «Ausgleichsmaßnahmen» eingeführt, darunter die Möglichkeit von stichprobenartigen Kontrollen im Landesinneren oder mehrtägigen «gemeinsamen Polizeioperationen», an denen Tausende Polizisten oder Zöllner aus den Mitgliedstaaten teilnehmen. Diese Maßnahmen unterlaufen den Schengen-Kodex bereits bedenklich. Die letzte Operation unter dem Namen «Demeter» führte z.B. zur Festnahme von 1936 Migranten.

Der Aushöhlung des Schengen-Abkommens gingen auch Auseinandersetzungen um die temporäre Wiedereinführung der Kontrollen anlässlich polizeilicher Großlagen voraus. Vor allem Frankreich, aber auch Spanien und Deutschland, haben hiervon häufig Gebrauch gemacht, etwa um die Anreise von Aktivisten zu internationalen Demonstrationen zu be- oder verhindern. Zuletzt hatte Spanien das Schengener Abkommen teilweise außer Kraft gesetzt, um unerwünschte Überraschungen bei der Tagung der Europäischen Zentralbank in Barcelona zu vermeiden. Auch Polen hat zur Fußballeuropameisterschaft Grenzposten wieder besetzt.

Der Vorschlag

Seit zwei Jahren kritisiert die EU-Kommission diese faktische Außerkraftsetzung der Reisefreiheit. Schließlich hat sie einen Vorschlag zur besseren «Schengen Governance» unterbreitet, der die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen regelt. Mitgliedstaaten erhalten ein Vetorecht.

Doch die Kommission hatte nicht mit dem Widerstand aus Deutschland und Frankreich gerechnet. In einem Brief an den dänischen Ratsvorsitz bekräftigten die Innenminister Hans-Peter Friedrich und Claude Guéant die nationale Souveränität auch bezüglich der EU-Binnengrenzen.

Ihr Vorstoß richtet sich auch gegen Griechenland: Für den Fall, dass ein Mitgliedstaat mehr Migranten durchreisen lässt, als von anderen Mitgliedstaaten gewünscht, fordern sie, darauf mit Kontrollen ihrer eigenen Grenzen reagieren zu können. Hierfür reicht es, dass eine Regierung «außergewöhnliche Umstände» erkennt.

Derartig wachsweiche Formulierungen ebnen den Weg für willkürliche Entscheidungen. Damit würde ein Land faktisch aus dem Schengen-Abkommen ausgeschlossen. Wie beim Fiskalpakt nutzen die deutsche und die französische Regierung die Ebene der Europäischen Union zur Durchsetzung ihrer unsolidarischen Politik.

Der Vorschlag aus Paris und Berlin wurde schließlich im Rat wie gewünscht durchgewunken. Grenzkontrollen sollen nun nicht mehr die absolute Ausnahme bleiben. Sie können überdies – etwa im Falle einer «Bestrafung» Griechenlands – auf bis zu zwei Jahre ausgedehnt werden. Das einzige Zugeständnis an die Kommission ist die Möglichkeit, zu den nationalen Maßnahmen eine Empfehlung abzugeben. Für die endgültige Entscheidung der jeweiligen Regierung ist diese aber nicht bindend.

Ebenfalls beschlossen wurde ein sog. «Evaluationsmechanismus». Dabei geht es um die Überprüfung, inwieweit ein Mitgliedstaat die Grenzsicherung ausreichend umsetzt und unerwünschte Migration verhindert. Kürzlich war etwa Griechenland auf diese Weise abgeklopft worden. Um nicht weiter in Ungnade zu fallen, baut die Regierung jetzt 30 Abschiebelager bzw. neue polizeiliche Haftunterbringungen. Auch die griechisch-türkische Grenze wird weiter aufgerüstet, was Migranten zu noch risikoreicheren Routen zwingen wird.

Im «Schengen-Evaluationsmechanismus» soll aber auch untersucht werden, ob die EU-Binnengrenzen auch weiter ohne anzuhalten übertreten werden können. Die Kommission hatte hierzu eine unabhängige Evaluation unter ihrer Federführung gefordert. Stattdessen soll sie nun von den Mitgliedstaaten gegenseitig vorgenommen werden.

Radikale Positionen fehlen

Das Schengen-Regelwerk ist derzeit also stark umkämpft. Die Kommission wurde vom Rat ausgebremst. Die nationale Souveränität wird auch im Bereich der Grenzsicherung unterstrichen.

Das bedeutet nun nicht, dass sich die Kommission an einer solidarischen Migrationspolitik orientieren würde. Im Gegenteil, ihr Vorschlag sah vor, Mitgliedstaaten sogar zur Akzeptanz von «schnellen Eingreiftruppen» der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX zu zwingen. Der Rat hat dies abgeblockt, indem auch hier lediglich «Empfehlungen» ausgesprochen werden können.

Nach dem Beschluss über die neuen Schengen-Regeln ist der Streit aber längst nicht beendet. Denn jetzt geht das EU-Parlament auf die Barrikaden. Doch auch diesem geht es nicht um die Belange der Migranten, sondern um die Rechtsgrundlage für den Evaluationsmechanismus. Das Parlament will ein Mitentscheidungsrecht, während dem Rat eine einfache Anhörung ausreicht.

Nun wollen die Parlamentarier vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Parlamentspräsident Martin Schulz hat sogar einen Gesetzesboykott angekündigt. Die Abgeordneten haben die Zusammenarbeit mit dem Rat in Bezug auf das Schengen-Paket und vier weitere Gesetzesvorhaben kurzerhand ausgesetzt.

In der ganzen Auseinandersetzung fehlen radikale, kritische Positionen. Denn die Reisefreiheit wird ohnehin nur Angehörigen der EU-Mitgliedstaaten oder privilegierten Reisenden gewährt.

Wir sind in der seltsamen Position, nun das Schengen-Abkommen gegen noch mehr Grenzkontrollen verteidigen zu müssen. Dabei bekämpften wir das Abkommen bereits bei dessen Abschluss, denn die Aufhebung von Kontrollen an den Binnengrenzen bedingt mehr Kontrollen an den EU-Außengrenzen.

Streiten müssen wir aber für eine solidarische Migrationspolitik, die sich an den Menschenrechten orientiert. Der Beschluss der EU-Innenminister ist ebenso ein falsches Signal wie die weitere Stärkung der EU-Migrationspolizei FRONTEX.

Die LINKE fordert eine grundlegende Umorientierung der europäischen Migrationspolitik. Europa wird sozial und solidarisch sein oder es wird nicht sein.

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