Menschenrechte hier und dort
von Klaus Engert
Chronische Bandscheibenvorfälle sind schmerzhaft und in Einzelfällen gefährlich, wenn auch nicht lebensgefährlich. Sie können mehr oder weniger starke, auch anhaltende, Schmerzen, Gefühlsstörungen und u.U. Lähmungen verursachen. Und sie sind häufig – aus naheliegenden Gründen in erster Linie beim körperlich arbeitenden Teil der Bevölkerung, aber nicht nur bei dem. Es handelt sich um eine unangenehme, höchst schmerzhafte Volkskrankheit, die aber den Vorteil hat, dass man sie in der Regel gut behandeln kann – in unkomplizierten Fällen ohne, in komplizierteren mit Operation. Insoweit in gebotener Kürze die medizinischen Banalitäten.
Was also ist an der simplen Bandscheibe einer in der Ukraine wegen nachgewiesenen Bestehlens des Staates zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilten Frau Timoschenko so Besonderes, dass der Chefarzt der berühmten Charite sich, bewaffnet mit einem zweiten Kollegen, auf den Weg in die Ukraine macht und permanent öffentliche Kommuniqués absondert, dabei unter anderem suggerierend, eine Behandlung sei nur in Deutschland möglich und die ganze Sache sei höchst gefährlich – was in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckte, Frau Timoschenko stünde kurz vor ihrem Ableben?
Eilfertig wird angeboten, die Delinquentin in der Charité in Berlin zu behandeln – aus humanitären Gründen. Als das keinen rechten Widerhall bei den ukrainischen Behörden fand, die wohl zu Recht davon ausgingen, dass sie die Gefangene nicht wiederbekommen würden, erging sich die gesamte deutsche Politikkamarilla in Boykottankündigungen bezüglich der Fussball-Europameisterschaft.
Letztere wurde natürlich nicht abgeblasen, denn da geht es ja um kurzfristige Gewinne, während das, was da unter dem Vorwand der Gefangenenfürsorge im Besonderen und der Menschenrechte im Allgemeinen an öffentlicher Krankengeschichtenerzählung zelebriert wird, erheblich langfristigeren und grundsätzlicheren Zwecken dient. Und dann kann Frau Timoschenko plötzlich wundersamerweise – der deutsche Chefarzt hatte sich erneut auf den Weg gemacht – doch in einem ukrainischen Krankenhaus behandelt werden. Allerdings wird ein deutscher Professor das Ganze „beaufsichtigen“, und die Tochter der Inhaftierten verkündete in der deutschen Tagesschau, dass sich ihre Mutter die Ärzte aussuchen wolle.
Szenenwechsel
Seit mehr als acht Monaten sitzt in Pakistan Baba Jan Hunzai zusammen mit vier weiteren Mitstreitern in verschiedenen Gefängnissen in Gilgit ein. Während dieser Zeit wurde er zweimal aus dem Gefängnis an einen unbekannten Ort gebracht und von Militär und Polizei gefoltert. Er wurde stundenlang geschlagen, es wurden ihm die Finger gebrochen, die Füße gequetscht; einem anderen Mitgefangenen, Ifthikar, schüttete man heißes Kerzenwachs auf die Genitalien, alles unter der Anklage des „Terrorismus“.
Natürlich ist Baba Jan kein „Terrorist“. Er ist Mitglied einer legalen Arbeiterpartei, die nach dem großen Erdbeben 2010 Soforthilfe organisierte. Sein Vergehen besteht darin, dass er die Proteste der lokalen Bevölkerung im Erdbebengebiet mitorganisierte. Die von der Regierung zugesagte Hilfe für die obdachlosen Opfer war nämlich auf dem Weg ins Erdbebengebiet spurlos verschwunden – vielleicht auch gar nicht erst abgeschickt worden. Als die Polizei bei einer friedlichen Demonstration zu schießen anfing und zwei Menschen, Vater und Sohn, tötete, kam es zu einem Volksaufstand. Die Regierung beschwichtigte, versprach eine Untersuchung der Erschießungen – und lochte als Resultat nicht die Polizisten, sondern die Demonstranten ein – wegen „Terrorismus“.
Baba Jan und seine Leidensgenossen werden wohl keinen deutschen Professor zu sehen bekommen, und auch aussuchen können sie sich ihre Ärzte nicht. Sie bekommen nämlich schlicht gar keinen Arzt zu sehen: die medizinische Versorgung wurde ihnen trotz der schweren Verletzungen verweigert.
Wenn man die Situation der Frau Timoschenko mit der von Baba Jan vergleicht, dann macht es einen schon sprachlos, mit welcher Schamlosigkeit diese Allianz aus bürgerlichen Politikern aller Couleur, ihren willfährigen Helfershelfern und Selbstdarstellern aus der Medizinbranche und Journalisten aller Medien, allen voran natürlich der notorische Gauck, den Eindruck zu erwecken versucht, es sei eine völlig normale und selbstverständliche Sache, dass man sich mit einer derart konzertierten Aktion für eine ungerecht behandelte Gefangene mit Rückenschmerzen einsetze. Aber hier legen sie sich besonders ins Zeug, denn hier geht es ums Prinzip: Wo kämen wir denn hin, so heißt der Klartext hinter dem Humanitätsgeheuchel, wo kämen wir denn hin, wenn führende PolitikerInnen wegen ihrer Amtsführung vor Gericht gestellt, dann auch noch verurteilt und schließlich nicht wenigstens begnadigt werden. Wehret den Anfängen!
Da tut es dann auch nichts zur Sache, dass die Timoschenko bis 2004 auf der Fahndungsliste von Interpol stand, dass die Herkunft ihres mehrere hundert Millionen betragenden Vermögens höchst zweifelhafter Natur ist und dass die Untersuchungen, auf denen ihre Verurteilung fußt, peinlicherweise auf einen Bericht von US-amerikanischen Anwälten zurückgehen, die u.a. Hinweise auf den Missbrauch von Staatsgeldern, Betrug und Geldwäsche durch Staatsbeamte, Ministerien und Privatunternehmen gefunden hatten.
Natürlich ist Timoschenkos Gegenspieler keinen Deut besser als sie – hier handelt es sich sozusagen um die Auseinandersetzung zwischen zwei Mafiaclans. Jetzt mischen die großen Paten aus dem Ausland sich ein und verlangen die Einhaltung gewisser ungeschriebener Regeln. Sie befürchten wohl sonst, um im Bild zu bleiben, eine Eskalation wie im Chicago der zwanziger und dreißiger Jahre, als es durch den Bruch gewisser mündlicher Abmachungen durch Al Capone zu dem berühmten Bandenkrieg kam, von dem letztendlich dann niemand der Beteiligten wirklich etwas hatte – im Gegenteil.
Auch für Baba Jan erheben sich weltweit Stimmen, aber das sind die von politischen Aktivisten, Gewerkschaftern und Intellektuellen, die Petitionen unterzeichnen, versuchen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren und seine Verteidigung organisieren. Ohne medizinische Versorgung, windelweich geprügelt, durch die perfide Anklage dem speziellen pakistanischen Antiterrorismusgesetz ausgesetzt, das die Rechte der Gefangenen zusätzlich einschränkt, war er unmittelbar vom Tod bedroht.
Glücklicherweise steht durch die weltweite Solidaritätskampagne jetzt seine Entlassung bis zur Gerichtsverhandlung unmittelbar bevor.
Zu verdanken hat er das allerdings nicht denen, die im Falle Timoschenko intervenierten. In solchen Fällen gilt bei den im Falle Timoschenko so „internationalistischen“ deutschen Politikern vorsichtshalber das Prinzip der nationalen Souveränität.
Was Frau Timoschenkos Bandscheibe mit Baba Jans gebrochenen Fingern zu tun hat?
Gar nichts: Im Falle Timoschenko haben wir es mit einer Schmierenkomödie zu tun, im Falle Baba Jan handelt es sich um bitteren Ernst.
Petition für Baba Jan: http://nakedpunch.com/articles/148
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