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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2012

Zwischen Instabilität und sanftem Putsch
von Pedram Shahyar

Der Vertreter der islamistischen Muslimbrüderschaft Mohamed Mursi konnte die Präsidentschaftswahlen in Ägypten knapp gewinnen. Der Verlauf der Wahlen führte Ägypten allerdings wieder in chaotische Zustände und schockierte viele.

Shafik, der letzte Premier unter Mubarak und Armeegeneral, und der Kandidat der konservativen Muslimbrüder schafften es in die Stichwahl, die am 17.Juni stattfand. Ein Sprecher Shafiks erklärte daraufhin: «Die Revolution ist vorbei.» Es kam zu einer Wahl zwischen dem alten Mubarak-System und dem Islamismus, Pest gegen Cholera. Nach dem ersten Eindruck schien die Revolution verloren zu sein, es ist «nicht mehr viel von Tahrir übrig», lautete die weit verbreitete Stimmung unter westlichen Beobachtern.

Kurz darauf füllte sich der Tahrir-Platz jedoch wieder. Mubarak und sein Clan, der vor der Revolution schon als Erbfolger festgelegt worden war, standen neben den Hintermännern der Verbrechen gegen die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz vor Gericht und wurden, bis auf Mubarak selbst, freigesprochen. Daraufhin strömten erneut Zehntausende auf die Plätze und forderten Gerechtigkeit für die Gefallenen. Die Bewegung war wieder da – auf ihrem Platz, dem Tahrir-Platz.

Revolutionäre gewinnen keine Wahlen

Oberflächlich gesehen gelten Wahlen nach Revolutionen als Ausdruck des neuen Kräfteverhältnisses, doch oft werden darin die Tiefenstrukturen des Kräftegleichgewichts verzerrt. Schaut man sich die Wahlen nach großen Revolutionen an, so waren es nie die Revolutionäre, die den Sieg davon trugen. 1918, nach der Russischen Revolution, erlangten die Bolschewiki bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung gerade mal 20%; 1968, nach der großen Revolte in Frankreich und dem Pariser Mai, hieß der Wahlsieger Charles de Gaulle.

Revolutionen sind der Bruch einer lang währenden Ordnung, und wenn diese bricht, gibt es naturgemäß eine Phase der Instabilität und des Chaos. Dies ist notwendig, denn ohne Chaos brechen keine Ketten der Herrschaft. Doch der Bruch bringt unweigerlich neue Schwierigkeiten, Unsicherheiten und ökonomische Verschlechterungen für viele Menschen, wie wir in Ägypten deutlich sehen können. Die Sehnsucht nach Normalität begleitet jede postrevolutionäre Phase, sie ist verständlich, kann aber zu konterrevolutionären oder konservativen Rückschlägen führen.

40% für die Revolutionäre

Vor diesem Hintergrund war das Ergebnis der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 23. und 24.Mai alles andere als entmutigend, ganz im Gegenteil. Der liberale Ex-Islamist Abdul Fotouh, ein ehemaliger Muslimbruder, der sich nach der Revolution von der Bruderschaft gelöst hat, wurde mit knapp 20% der Stimmen Vierter. Er repräsentierte die liberalen Strömungen des Islam, stellte sich auch stets auf die Seite der Tahrir-Bewegung und genoss einen sehr guten Ruf unter der revolutionären Jugend.

Eine große Überraschung war der kometenhafte Aufstieg des linken Nasseristen Sabbahi, der ebenfalls mit knapp 20% den dritten Platz belegte. Er wurde von der «Koalition der revolutionären Jugend» unterstützt, und es gelang ihm, trotz zunächst schlechter Umfragewerte, mit einem säkularen und stark auf soziale Gerechtigkeit ausgerichteten Profil in Kairo, Port Said, und in der Hochburg der Islamisten, Alexandria, also in den großen urbanen Zentren, mit ca. 35% die meisten Stimmen zu holen. Hamdeen Sabbahi war jahrzehntelang in der Opposition aktiv und wurde mehrmals inhaftiert – das erste Mal 1977 wegen Beteiligung bei den Vorbereitungen der damaligen großen «Hunger-Revolten».

Somit konnten die Kandidaten mit klar revolutionärem Profil fast 40% gewinnen, während ihre Parteien bei den Parlamentswahlen im November 2011 keine 15% geholt hatten. Für die kommenden Parlamentswahlen hat Sabbahi angekündigt, einen großen Block bilden zu wollen. Das Projekt eines «Dritten Blocks» neben der Armee und den Islamisten könnte dieses Mal im Unterschied zu den letzten Parlamentswahlen ein deutlich linkes und sozialistisches Profil erhalten.

Während bei den revolutionären Kandidaten eine neue Dynamik zu sehen war, verloren die Muslimbrüder von den 10 Millionen Stimmen, die sie bei den Parlamentswahlen im November erlangt hatten, im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen fast die Hälfte – sie erhielten nur noch 5,5 Millionen Stimmen. Es gibt auch viele Anzeichen dafür, dass die Wahlen punktuell gefälscht wurden und Shafik nur dadurch auf den zweiten Platz kam. Der liberale Ex-Islamist Fotouh berichtete, Tausenden seiner Wahlbeobachter sei  mehrere Stunden lang der Zugang zu den Wahlurnen verweigert worden.

Sanfter Putsch

In den Tagen zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang überschlugen sich die Ereignisse. Während die revolutionären Kräfte ernüchtert und frustriert wieder die Plätze zu belagern versuchten, nutzte die Armeeführung die Schwäche der Islamisten für einen harten Schlag: Die Gerichte, die große Bastion der alten Kräfte des Mubarak-System, erklärten die Kandidatur von Shafik für legal, obwohl das Parlament die Beteiligung von hohen Funktionären des alten Regimes an den neuen politischen Institutionen verboten hatte. Gleichzeitig wurde das Parlament, die erste legal gewählte Institution im Lande, aufgelöst. Die Armeeführung legte einen provisorischen Verfassungsentwurf vor, der ihnen weitreichende Rechte einräumt und die Macht des Präsidenten massiv beschneidet.

Viele sprechen hier von einem sanften Putsch. Die Armeeführung versucht einen großen Schritt in Richtung Etablierung eines pakistanischen Modells, wo sich zwar formale und legale demokratische Institutionen bilden können, die Armee aber die dominante Struktur im Staat bleibt. Die Islamisten wiederum streben ein türkisches Modell an, wo die legalen politischen Institutionen unter ihrer Führung die Macht der Armee sukzessive abbauen und ihnen die konservative Hegemonie sichern. Derzeit sind sie geschwächt, weil sie nach ihrem Wahlsieg im November mit ihrer streng legalistischen und konservativen Politik gegen die Armee nicht viel erreichen konnten, insbesondere keine Erleichterungen für die brennenden sozialen Probleme in Ägypten.

Die Stichwahlen wurden zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen. Shafik profilierte sich als der starke Mann, der die Ordnung wiederherstellt und den Islamismus im Zaun hält, gestützt von den alten Eliten im Staat und den Medienapparaten. Mursi versuchte sich als Retter der Revolution darzustellen, allerdings ohne großen Erfolg: Die revolutionären Kandidaten verweigerten ihm zunächst die Unterstützung, zu sehr hatten die Islamisten die revolutionäre Bewegung im letzten Jahr enttäuscht. Doch je näher die Wahl rückte, umso mehr wuchs die Angst vor einem Sieg Shafiks, und einige revolutionäre Strukturen begannen sich hinter Mursi zu stellen. Beide Kandidaten erklärten nach den ersten Auszählungen ihren Sieg. In Kairo kam es zu Massenkundgebungen beider Lager, auf Twitter war ständig von Ausschreitungen und Schießereien zu lesen.

Schwache Institutionen

Die Enttäuschung unter den revolutionären Kräften ist zur Zeit sehr groß, weil sie in dem Präsidentschaftsrennen an den Rand gedrückt wurden. Doch der neue Präsident wird schwach sein, sein legaler Rahmen ist stark eingeschränkt. Der Riss zwischen der Armeeführung und den Islamisten ist offensichtlich, aber die Islamisten haben sich die Unterstützung der Straße durch ihre monatelange Nähe zur Armeeführung und den alten Eliten verspielt. Nach der Auflösung des Parlaments (in dem die Islamisten eine Zweidrittelmehrheit besaßen) riefen die Muslimbrüder zu Demonstrationen auf dem Tahrirplatz auf, doch diese waren alles andere als gigantisch.

Die Armee ihrerseits hat in den letzten Monaten sehr viel von ihrer historischen Popularität und Hegemonie eingebüßt. Es wird immer offensichtlicher, dass sie nicht, wie versprochen, die Instanz ist, die den Übergang zu einer demokratischen Ordnung sichert, sondern soviel wie möglich von ihrer alten Macht behalten und verfestigen will. Die populäre Basis einer reaktionären Bewegung ist noch zu schwach, um sich hart an die Macht zu putschen – 23% im ersten Wahlgang für Shafik, trotz Manipulation, sind wahrlich keine Basis, um mit einer aufgewühlten postrevolutionären Gesellschaft aufzuräumen.

Alles läuft auf weiterhin instabile, schwache Institutionen hinaus – bis zur Wiederholung der Parlamentswahlen. Diese Instabilität kommt der Armeeführung zwar unmittelbar zugute, weil sie weiterhin als der einzige große militärisch-ökonomisch-politische Komplex die Zügel in der Hand behält. Mittelfristig sorgt dies jedoch weiterhin für Ermüdung und Erschöpfung der Bevölkerung, gleichzeitig wird der Raum für radikale Antworten größer – sowohl im Sinne der Wiederherstellung der «alten» Ordnung, als auch im Sinne der Weiterführung und Vertiefung der Revolution.

Die Schwierigkeiten des Übergangs werden nicht kleiner, und die Möglichkeiten für die kommenden Monaten sind sehr unübersichtlich. Aber das Ende der Revolution ist  Wunschdenken einer alten Elite, die sich um ihre Einbalsamierung sorgt.

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