von Leo Gabriel
Als am 15.Juni auf dem Gelände am Flamengo-Strand von Rio de Janeiro die ersten Veranstaltungen vor nahezu leeren Zelten stattfanden, ahnte noch niemand, welche Ausmaße die Cúpula dos Povos (der Gipfel der Völker) in den folgenden sieben Tagen annehmen würde. Denn was da in den 756 Seminaren, Workshops und Versammlungen diskutiert wurde, war nichts Geringeres als die Frage nach der Natur der Natur:
Ist der Planet eine Krone der Schöpfung in einem kosmischen Zusammenhang? Oder ist er die Mutter Erde, die Pacha Mama? – ein eigenständiges Subjekt, das jetzt seine Rechte einfordert? Oder nur das Opfer grenzenloser Ausbeutung durch ein Geflecht von rein ökonomisch bestimmten, für Mensch und Umwelt gleichermaßen zerstörerischen Prozessen, die nur einer «nachhaltigen Entwicklung» bedürfen, um wieder ins Lot zu kommen?
Der Gegensatz zwischen einer geozentrischen und einer anthropozentrischen Weltsicht gab schon im Vorfeld von Rio+20 Anlass zu teils heftigen Debatten um den Begriff der Green Economy. Dass die Suppe, die von den brasilianischen Gastgebern in Form eines offiziellen Schlussdokuments präsentiert wurde, dann doch nicht so heiß gegessen wurde, war vor allem darauf zurückzuführen, dass diesmal nicht nur die «artige Zivilgesellschaft» der bei der ECOSOC akkreditierten NGOs, sondern auch soziale Bewegungen wie Via Campesina, ökologische Netzwerke wie das Klimaforum und aktionsbezogene NGOs wie Friends of the Earth am Verhandlungsprozess teilnahmen.
So wurde in dem 283 Punkte umfassenden Schlussdokument der Staatenkonferenz Green Economy derart weit gefasst, dass im Grunde genommen jede Regierung sie auf ihre eigene Weise umsetzen kann: «Wir bekräftigen, dass jedes Land über verschiedene Visionen, Modelle und Instrumente verfügt, um eine nachhaltige Entwicklung in ihren drei Dimensionen Wirtschaft, Soziales und Umwelt zu erreichen ... Die Grüne Ökonomie muss daher zur Armutsbekämpfung ebenso beitragen wie zu einem nachhaltigen ökonomischen Wachstum.» (Punkt 56.)
Diesen Spagat schaffte das von maßgeblichen Umweltexperten beratene brasilianische Verhandlungsteam allerdings nur um den Preis jener Unverbindlichkeit, welche bereits die Klimakonferenzen in Kopenhagen, Cancun und Durban gekennzeichnet hatte. So werden zum Beispiel Indikatoren, die so zentrale Begriffe wie «nachhaltige Entwicklung» erst definieren sollen, einem dreijährigen Diskussionsprozess in den Nationalstaaten und multilateralen Gremien überlassen.
Wesentlich punktgenauer ging es da auf dem Gipfel der Völker zu, der, dem Vorbild der Weltsozialforen folgend, in fünf verschiedene thematisch bestimmte «Territorien» gegliedert war. Im Unterschied zum Weltsozialforum wurden jedoch die von den einzelnen Organisationen selbst organisierten Veranstaltungen von fünf verschiedenen Versammlungen begleitet, die von den sozialen Bewegungen zu folgenden Themen organisiert waren: soziale und Umweltgerechtigkeit, Verteidigung der Gemeingüter gegen Kommerzialisierung, Ernährungssouveränität, Energie und Bergbau sowie Arbeit.
Die Ergebnisse wurden nach fünf Tagen in «Konvergenzversammlungen» zusammengefasst und einer abschließenden, nicht allzu gut besuchten Vollversammlung vorgelegt.
In der Schlusserklärung des Gipfels der Völker wurden die «wirklichen, strukturellen Verursacher der globalen Krise» angeklagt: «das kapitalistische System, das sich mit dem Patriarchat, dem Rassismus und der Homophobie assoziiert hat». Transnationale Unternehmen könnten «weiter völlig straflos ihre Verbrechen» begehen, «indem sie die Rechte der Völker und der Natur systematisch verletzen.»
Dass es sich dabei nicht nur um leere Worte handelte, bewiesen Demonstranten verschiedener brasilianischer Organisationen bereits am dritten Tag der Konferenz, als sie die Brasilianische Entwicklungsbank friedlich, aber lautstark besetzten, gefolgt von einem Frauenmarsch, der sich auf das auch in der Staatenkonferenz heftig diskutierte Selbstbestimmungsrecht auf den eigenen Körper bezog, und schließlich stellten die Landlosen vom MST (Movimento de Sem Terra) mit ihrem energischen Eintreten für Ernährungssouveränität und Landreform die Polizei immer wieder vor neue Herausforderungen.
So war denn auch der Aufruf, den der Landlosenführer João Pedro Stedile sowohl auf der großen Demonstration am 20.Juni vor 20.000 Demonstrierenden als auch auf der abschließenden Vollversammlung vortrug, mehr als eindeutig: «Wenn wir jetzt mit mehr Energie nach Hause zurückkehren, so geschieht das mit dem Auftrag, in unseren Bewegungen an der Basis jene Utopie zu vermitteln, die andere mit verschiedenen Namen benennen, die wir in Lateinamerika aber als Sozialismus bezeichnen.»
Leo Gabriel ist Journalist, Anthropologe und Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums.
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