von Arno Klönne
Elternzeit hin, Wahlkampf her – der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel nutzte das Sommerloch, machte Besuch bei einem Philosophen und leitete so die Produktion eines Textes ein, dem die Frankfurter Allgemeine ganzseitig Aufmerksamkeit verschaffte: Jürgen Habermas, Peter Bofinger und Julian Nida-Rümelin teilen darin mit, wie sie sich die Rettung des Euro und zugleich der «Einheit Europas» insgesamt vorstellen.
Nicht etwa als Debattenbeitrag akademisch Prominenter, der zum Streit herausfordert, tritt diese Gruppenarbeit auf, sondern als programmatische Vorlage für die Sozialdemokraten, denen es bevorsteht, sich rechtzeitig vor den nächsten Bundestagswahlen wieder einmal grundsätzlich zu äußern. «Ein neues Verfahren: Das Programm wird nicht mehr im closed shop geschrieben, sondern im Austausch mit Wissenschaftlern und Intellektuellen», rühmt im redaktionellen Vorspann die FAZ die Vorgehensweise von Gabriel und die Bereitwilligkeit der drei Autoren.
Woran liegt es, dass Europa trotz aller Rettungsschirme im Regen steht? Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin bieten eine schlicht-ergreifende Antwort: «Der Bundesregierung fehlt der Mut, einen unhaltbar gewordenen Status quo zu überwinden.» Das Argument passt, wenn im nächsten Jahr gewählt wird, will eine neue Bundesregierung mit Sozialdemokraten ins Amt gebracht werden, die ja, so soll man glauben, mit den wirtschafts- und finanzpolitischen Weichenstellungen, die Europa in die Krise gebracht haben, nie etwas zu tun hatten. Peer Steinbrück oder Frank-Walter Steinmeier stehen parat, in Berlin regierend Europa aus dem Elend zu erlösen…
Auf welchem Weg? Die drei Autoren, lässt man ihr feuilletonistisches Beiwerk mal beiseite, beschreiben ihn so: Die «europäischen Institutionen» müssen «vertieft» werden, um «Fiskaldisziplin wirksam durchzusetzen und ein stabiles Finanzsystem zu garantieren». Zu diesem Zweck sei eine «Souveränitätsübertragung» notwendig, «gemeinschaftliche Haftung» im europäischen Raum müsse sich «mit einer strikten gemeinschaftlichen Kontrolle über die nationalen Haushalte» verbinden. Eine gemeinsame Währung verlange, dass der Schritt hin zu einer «Politischen Union», einem «europäischen Gesetzgeber» getan werde, «zunächst im Kerneuropa der 17 EWU-Mitgliedstaaten».
Solch eine «Vertiefung», das wissen die programmatischen Vorarbeiter, bedarf der «Legitimation». Deshalb schlagen sie vor, die Bundesrepublik solle die Initiative zu einem europäischen «Verfassungskonvent» ergreifen, dessen Beschlüsse für die Konstruktion eines «politisch geeinten kerneuropäischen Währungsgebietes», eines «demokratischen Kerneuropas», sollen durch «Referenden» bestätigt werden.
Wie ist dafür zu sorgen, dass die kerneuropäischen Bürger dazu Ja sagen? Auch da haben Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin eine Idee, am Beispiel der Bundesrepublik: SPD, CDU und Grüne (FDP und CSU werden nicht genannt) sollen eine «Parteienallianz» bilden, «um die Mehrheit der Wähler von den Vorzügen einer Politischen Union zu überzeugen». Die Überschrift über den Aufruf zur «Vertiefung Europas» in der FAZ lautet: «Einspruch gegen die Fassadendemokratie». Diese soll offenbar ausgetauscht werden gegen eine Akklamations-«Demokratie», deren störungsfreier Betrieb allianzgesichert ist, durch einvernehmliches Handeln der beteiligten Parteiapparate.
Was zwei Philosophen und ein Wirtschaftswissenschaftler der SPD hier andienen, zur Freude des Parteivorsitzenden, hat die Eigenschaften eines Luftschlosses. Die Barrieren, die bei einem solchen Neubau europäischer «Institutionen» in den einzelnen Ländern auftreten würden, bleiben unbedacht. Es wird kein Gedanke verwendet an die realen Entscheidungsstrukturen der Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im europäischen Territorium, wo neben Parlamenten und Regierungen, ob national oder europäisch, noch andere «Institutionen» längst Inhaber von Macht sind. Auf Legitimationsbeschaffung sind diese nicht angewiesen.
Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin verheißen ihrem Publikum «sozialstaatliche, bürgerdemokratische Handlungsfähigkeit der Politik gegenüber den Imperativen des Marktes». Ein trügerisches Versprechen; verschwiegen wird von ihnen, worum es sich beim «Markt» und seinen «Imperativen» handelt. Verbreitet wird so die Illusion, durch «Souveränitätsabgabe» der Einzelstaaten an neue, gemeinsame Politikinstanzen im Euro-Raum seien Volkssouveränität und sozialer Ausgleich wiederzugewinnen – ohne den Konflikt mit jenen machtvollen Interessen auszutragen, die Demokratie und Sozialstaatlichkeit als geschäftsschädigend ansehen und deshalb, um das Vokabular der drei Autoren zu verwenden, «systemisch» wegzuräumen bestrebt sind.
«Vertiefung Kerneuropas» – dieses sozialdemokratische Luftschloss hat für die gesellschaftspolitische Wirklichkeit nur eine mögliche Bedeutung: Stimmenfangend den Blick abzulenken von der Auseinandersetzung der Klassen und der Notwendigkeit sozialer Bewegung.
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