von Urs Zbinden
Vier Monate kämpften die Beschäftigten von Merck Serono in Genf um ihre Arbeitsplätze und ihre Würde. Am Ende erreichten sie nur einen leicht verbesserten Sozialplan. Einer der längsten Arbeitskonflikte der Schweizer Geschichte hat gezeigt, wie sich eine Belegschaft im Kampf radikalisieren kann und trotzdem an ihre Grenzen stößt.
Am Schluss war es eine klare Sache: Mit einer Mehrheit von 237 zu 30 Stimmen beschloss die Belegschaft, den Sozialplan anzunehmen, obwohl Merck nur in wenigen Punkten Zugeständnisse gemacht hatte. Es sei hart, dieses Resultat zu akzeptieren, aber das Kräfteverhältnis sei einfach zu ungleich, resümierte ein Arbeiter.
Merck reagiert auf die mörderische Konkurrenz in der Pharma- und Chemiebranche mit der Schließung des Standorts Genf. Mit der Strategie «Fit for 2018» sollen Kosten in der auf langfristiges Engagement angelegten Forschung reduziert werden. Da mit dem Hauptsitz in Darmstadt bereits eine kleine, flexible und dynamische Forschungseinheit existiert, wollte der Konzern mit der Schließung des Genfer Werks Doppelspurigkeiten abbauen.
In der Konsultationsphase entwarf die Belegschaft in Arbeitsgruppen drei Lösungsvorschläge, um die Arbeitsplätze in Genf zu behalten. Doch die Beschäftigten verkannten, dass im Klassenkampf nicht die Argumente, sondern das Kräfteverhältnis entscheidend ist. Am 19.Juni verwarf Merck alle drei Vorschläge in Bausch und Bogen.
Daraus zogen die Beschäftigten ihre Lehren und radikalisierten ihre kreativen Aktionen zunehmend. Diese Entwicklung zeigt wunderbar, wie sich das Bewusstsein von Menschen durch den Kampf verändern kann. Die Mehrzahl der Beschäftigten hat einen akademischen Titel. Noch vor einem halben Jahr konnten sich nur wenige vorstellen, an einer Demonstration teilzunehmen. Es gab nicht einmal eine gewerkschaftliche Vertretung im Betrieb. Im Schnelldurchgang spielten die Beschäftigten alle sozialpartnerschaftlichen und symbolischen Mittel durch: Es wurde eine Petition lanciert, Flashmobs und Demonstrationen durchgeführt. Doch erst die Androhung ökonomischen Drucks durch Streik erwirkte die Verlängerung der Konsultationsphase.
Strategiewechsel
Als die Vorschläge aus der Konsultationsphase schlichtweg abgelehnt wurden, glaubten die meisten nicht mehr an den Erhalt der Arbeitsplätze. Doch dann fiel der Sozialplan sehr mager aus und sorgte für große Empörung. Der Kampf ging nun darum, den Sozialplan zu verbessern. Diese Änderung der Strategie passte wohl auch gut ins Konzept der UNIA, der größten Einzelgewerkschaft der Schweiz. Sie hatte schon in anderen Konflikten relativ schnell den Kampf um die Arbeitsplätze zugunsten eines besseren Sozialplans aufgegeben. Fortan sollte die Genfer Regierung unter Druck gesetzt werden, Merck an den Verhandlungstisch zu zwingen.
Die Empörung der Belegschaft traf sich mit der Strategie der Gewerkschaft. Doch erst beim zweiten Streik und mit dem Beginn eines Hungerstreiks von 15 Beschäftigten sah sich die Regierung genötigt zu intervenieren. Es kam zu Verhandlungsrunden zwischen der Gewerkschaft, der Personalvertretung und der Genfer Regierung. Damit verbunden war jedoch der Verzicht auf sämtliche Handlungsmöglichkeiten: Es durfte weder gestreikt, noch demonstriert werden. Merck hingegen gab keinen Millimeter nach.
Nach kurzer Zeit beschloss die Vollversammlung der Beschäftigten, die Verhandlungen abzubrechen, und trat erneut in den Streik. Die Ohnmacht gegenüber dem unnachgiebigen Merck-Management und die Erschöpfung nach fast vier Monaten Kampf bewirkten schließlich, dass die Belegschaft am 9.August einem Sozialplan zustimmte, der nur kleine Verbesserungen enthielt. Damit war der Kampf beendet.
Es braucht eine internationale Bewegung
Das Rationalisierungsprogramm «Fit for 2018» betrifft nicht nur den Standort Genf. Auch an anderen Standorten wird es zu Entlassungen kommen. Im Lauf des Kampfes versuchte die Genfer Belegschaft immer wieder, Kontakt zu anderen Belegschaften zu knüpfen und einen gemeinsamen Kampf loszutreten. Eine Delegation reiste sogar zum Hauptsitz von Merck nach Darmstadt. Trotz der anfänglichen Zusage einer parallelen Aktion zog sich der Betriebsrat aus Deutschland hinter die Interessen seines Standorts zurück, er wolle die Verhandlungen mit dem Unternehmen nicht gefährden. So kam die Lancierung einer internationalen Bewegung über symbolische Aktionen nicht hinaus.
Wäre es den Beschäftigten von Merck Serono tatsächlich gelungen, eine länderübergreifende Bewegung zu lancieren, hätte sich das ungleiche Kräfteverhältnis schlagartig zu ihren Gunsten verschoben. Aber was noch nicht ist, kann ja noch werden. Oder wie es ein Arbeiter formulierte: «Diese Welt wird immer weniger ein menschlicher Ort, und ‹Fit for 2018› ist nur ein Symptom dieser Veränderung. Ich will alles tun, um dies zu stoppen, zu verlangsamen oder umzukehren.»
Urs Zbinden ist Sekretär der Gewerkschaft UNIA.
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