von Franz Segbers
Warum kann man Schulden mit einer solchen Härte und Unnachgiebigkeit eintreiben, dass dadurch andere Menschen in Not und Elend stürzen können? Schulden scheinen rechtlich und moralisch ein Verhalten zu rechtfertigen, das ansonsten nicht legitimiert und sogar moralisch zu «neutralisieren» wäre.
Es gibt eine Jahrtausende alte Tradition, die bis nach Mesopotamien zurückreicht und auch in der Bibel zu finden ist. Die Bibel stammt aus einer uns fremden Welt. In ihr war die Ökonomie selbstverständlicher Teil einer umfassenderen Lebenswelt. Nicht die Gesellschaft war der Ökonomie unterworfen, sondern die Ökonomie war Teil des Lebens. Natürlich gelten auch dort ökonomische Gesetze: Wer Geschäfte macht, will nicht übers Ohr gehauen werden, und wer etwas in eine Unternehmung hineinsteckt, will auch etwas herausbekommen. Aber das Wirtschaften ist eingebettet in eine Welt, deren höheres Ideal mit «Recht und Gerechtigkeit» zu umschreiben ist. Oberster Garant einer solchen gerechten Ordnung ist Gott. Wenn der Arme wegen eines heranrückenden Erlassjahres keinen Kredit bekommt, so ruft er nach 5.Mose 15,9 zu diesem Gott und der legt es als Schuld auf den hartherzigen Kreditgeber.
In manchen Debatten um die Verschuldung von Ländern wie Griechenland bekommt man den Eindruck, ausschließlich die verschuldeten Länder seien das Problem, oder die Griechen seien faul und korrupt. Biblische Texte, die sich mit der Verschuldung von Menschen befassen, sprechen aus der Perspektive der Leidtragenden. Spr.22,7 formuliert nüchtern: «Der Reiche herrscht über die Armen; und wer borgt ist des Gläubigers Knecht.»
Wer reich ist, kann Darlehen vergeben. Dieses Vermögen macht ihn zu jemand, der Macht ausüben kann. Das Wort Vermögen hat eine doppelte Bedeutung. Da vermag jemand etwas, weil er Vermögen hat. Die Reichen können die Armen zu ihren Sklaven machen. Verschuldung ist also ein Herrschaftsinstrument, das machtförmigen Charakter hat. Darin drückt sich eine immer noch aktuelle Erfahrung aus, dass nämlich der Schuldner bedroht ist, nicht der Kreditgeber.
Aber die biblischen Texte halten auch die Erinnerung wach, dass die Vergabe von Krediten kein Akt des Edelmutes ist, sondern interessenbedingt. Man kann an den Schulden der Schuldner reich werden!
Verschuldung ist das Kernproblem antiker bäuerlicher Gesellschaften. Verschuldung, die sich zur massenhaften Überschuldung auswächst, kann die Grundlagen der Gesellschaft zerstören. Als in Israel und Juda ab dem 8.Jahrhundert eine Entwicklung sichtbar wird, die den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht, werden erstmals Rechtssätze kodifiziert.
Die hebräische Bibel kennt Gegeninstrumente zur Verschuldung: den Schuldenerlass und die Befreiung der Schuldsklaven und Schuldsklavinnen. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass das siebenjährige Erlassjahr aus 5.Mose 15,1–11 praktiziert wurde, während eine andere Bestimmung des Jubeljahres mit einer Landreform, Schuldenerlass und der Befreiung der Schuldsklaven alle fünfzig Jahre wohl eher programmatischen Charakter hatte (3.Mose 25). Der Schuldenerlass in 5.Mose 15 regelt nicht nur diesen, sondern auch ein Darlehensgebot. Der Gefahr bestand real, dass bei herannahendem Erlassjahr keine Kredite mehr fließen. Diesem Problem konnte 5.Mose 15,7 nur mit einem dringlichen Appell zum willigen Geben entgegenwirken. Die Jesus-Bewegung nimmt diesen Gedanken später zustimmend auf («[L]eiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft», Lk.6,35) und belegt damit, dass der Schuldenerlass gesellschaftliche Praxis war.
Die Vater-unser-Bitte «Vergib uns unsere Schuld(en)» gehört in diese Erlassjahrtradition. Sie ist ein Notschrei und drückt eine jahrhundertelange Erfahrung der Menschen mit Schulden und Verschuldung aus. Die Versicherung «…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern» meint die Bereitschaft zur gegenseitigen Schuldenstreichung.
Außerbiblisch meint das griechische Wort «Schulden» eindeutig die «Geldschuld». Die Bitte um die Schuldenvergebung wird im griechisch verfassten Matthäusevangelium also mit dem Fachbegriff des Schuldenerlasses formuliert. Lukas spricht jedoch von Sünden und Sündenvergebung. Die aramäische Sprache, die Jesus verwendete, kennt einen weiten Begriff von Schuld und Schulden, der sich auf alles bezieht, was Menschen einander schulden – auch die moralische und die ökonomische Schuld. Sie umfasst deshalb die moralisch-sittliche Pflicht gegenüber Gott und den Mitmenschen. Zur Zeit Jesu waren mit dem aramäischen Begriff «Sünde» auch materielle Schulden gemeint.
Deshalb ist die Vater-unser-Bitte so zu interpretieren: Gott möge uns unsere Schulden ihm gegenüber erlassen, wie wir sie erlassen haben unseren Schuldnern, gleich was sie uns schulden.
Die Vater-unser-Bitte fasst Jahrhunderte lange Erfahrungen im Umgang mit Schulden zusammen, die bis in das zweite vorchristliche Jahrtausend nach Mesopotamien zurückreichen. Schuldenerlasse wurden dort erstmals praktiziert und haben wohl auch die biblischen Schuldenerlasse inspiriert. Übrigens wurde die Entschuldung eines Schuldners dadurch bestätigt, dass der befreite Schuldner «Halleluja» ausrief und sein Kopf mit Öl gesalbt wurde.
Der biblische Umgang mit Schulden und Verschuldung geht von einer doppelten Grundorientierung aus:
– Die Logik der Humanität erhält unbedingten Vorrang gegenüber anderen Ansprüchen. Konkret bedeutet dies bei Verschuldung: Das Recht auf Leben hat Vorrang vor Geld- und Kreditinteressen.
– Herrschaft und Macht, die Humanität bedroht, muss begrenzt werden. Konkret bedeutet dies, die Macht der Kreditgeber gegenüber den Schuldnern muss gezähmt werden, damit sich Freiheit entfalten kann.
Die Vater-unser-Bitte in der Tradition des biblischen Schuldenerlasses ist Ausdruck einer regelmäßigen Revolution, die Teil unserer Tradition ist: Die Bibel und der Koran der Muslime (lailat al-bara) dulden keinen Zins und fordern einen Schuldenerlass. Das zugrundeliegende, jahrtausendealte und doch so erfrischend aktuelle ethische Grundanliegen der Religionen, an die heute zu erinnern ist, lautet: Das Geldsystem darf nicht über das Leben der Menschen herrschen.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.