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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2012

Michel Kilo über die zivile Opposition und die Perspektiven nach Assad

Michel Kilo ist einer der führenden linken Oppositionellen in Syrien. Er wurde 1940 in einer christlichen Familie in der syrischen Hafenstadt Latakia geboren, studierte Journalismus in Ägypten und Deutschland und schrieb für die libanesische Tageszeitung An-Nahar sowie für die in London erscheinende Al-Quds al-Arabi. Im Jahr 2000 gehörte er zu den bekannten Vertretern des «Damaszener Frühlings», einer kurzen Periode des politischen Aktivismus nach dem Tod von Hafez al-Assad. Im Februar 2012 gründete Kilo zusammen mit anderen prominenten Dissidenten das «Syrische Demokratische Forum».

Kilo wurde zweimal vom Assad-Regime verhaftet, zuletzt im Mai 2006. Seit einigen Monaten lebt er in Paris, wo Harald Etzbach Ende August für die SoZ mit ihm sprach.

Mitte Juli wurden bei einem Anschlag auf das Zentrum der Nationalen Sicherheitsbehörde in Damaskus vier enge Vertraute von Präsident Assad getötet. Die Folge war eine Eskalation der Auseinandersetzungen. Wie hat sich seither das Verhältnis zwischen militärischem und zivilem Widerstand in Syrien verändert?

Nach diesem Angriff hat das Regime einen umfassenden Krieg gegen alle Teile des Landes begonnen. Ich glaube, das Regime hat Angst vor einer Spaltung innerhalb seiner eigenen Anhängerschaft und hat verstanden, dass die Krise viel größer geworden ist, als es zunächst glaubte. Das Regime bombardiert Dörfer, Schulen, Straßen, Moscheen usw. mit Waffen, die dazu dienen, große Gebiete dem Erdboden gleichzumachen. Das ist jetzt der dritte Angriff gegen die Freie Syrische Armee (FSA) in den letzten drei Monaten und der fünfte Angriff gegen die syrische Bevölkerung in den letzten eineinhalb Jahren. Dem Regime geht es darum, den Kampf endgültig zu entscheiden, es weiß, dass es um sein Überleben geht und dass es sich mit allen Mitteln verteidigen muss.

Bedeutet dies auch, dass es keinen Raum mehr für eine zivile, nichtmilitärische Opposition gibt?

Die Opposition war zunächst lange Zeit unbewaffnet, doch dann ist das Regime mit einer solchen Brutalität vorgegangen, dass die Menschen sich verteidigen mussten. Dennoch gibt es bis heute hunderte von Orten, an denen jede Woche friedliche Demonstrationen stattfinden. Mitte August gab es in Daraya eine Demonstration von ungefähr 50000 Menschen und das, obwohl die Stadt zwei Tage zuvor angegriffen und besetzt worden war und obwohl hunderte von Menschen festgenommen wurden und verschwunden sind. Der Widerstand ist also nicht nur militärisch, und der Träger der militärischen Aktionen ist im Grunde die Zivilbevölkerung.

Sie haben mehrfach für Verhandlungen zwischen der Opposition und Teilen des Regimes plädiert. Halten Sie das noch für eine reale Option?

Ich glaube, dass es nach dem jetzigen Kampf einen Teil des Regimes geben wird, der bereit ist, über eine demokratische Zukunft des Landes zu verhandeln und eine friedliche Lösung zu suchen, zumal wir ja als Opposition die ganze Zeit sagen, dass wir künftig keine politische Richtung ausschließen möchten. Das bedeutet, dass auch die Mitglieder der Baath-Partei ihren Platz haben werden und in einem demokratischen System für ihr Programm eintreten können. Wir wollen nicht, dass es so wird wie im Irak, wo die Baathisten keine politische Rolle mehr spielen durften. Wenn sie sich daran beteiligen, eine friedliche und demokratische Lösung für Syrien zu finden, dann werden sie dafür sicherlich belohnt werden.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle Russlands? Könnte Moskau eine Vermittlerrolle übernehmen?

Wir vom Syrischen Demokratischen Forum haben diesen Vorschlag gemacht, als wir Anfang Juli in Moskau waren. Wir haben damals gesagt, dass Russland als Gegengewicht zum fundamentalistischen Islam mit uns zusammenarbeiten sollte, damit wir unter der Aufsicht Russlands eine Alternative, bestehend aus der Opposition und Teilen der jetzigen Regierung, aufbauen können. Wir haben der russischen Regierung auch zugesagt, dass wir ihre strategischen Interessen akzeptieren und respektieren werden. Wir wollen, dass Russland uns hilft, unsere Unabhängigkeit zu bewahren.

Ich finde, dass Russland im Augenblick eine Politik betreibt, die von A bis Z falsch ist. Das habe ich Außenminister Lawrow auch gesagt. Vielleicht glaubt Russland, dass das syrische Regime siegen wird. Ich begreife nicht, warum sie nicht versuchen zu verstehen, was in Syrien geschieht. Warum sie die Revolution in Ägypten akzeptiert haben, warum sie dort mit den anderen Mächten an einer Lösung gearbeitet haben. Und in Syrien, wo es eine wirkliche Volksbewegung gibt, ist es ganz anders.

Die Freundschaft mit Russland ist Teil unseres patriotischen Erbes, die syrische Bevölkerung hat die US-amerikanische Politik immer abgelehnt. Jetzt ist es aber so, dass es nur eine Beziehung zwischen Moskau und dem Präsidentenpalast in Damaskus gibt. Demgegenüber haben die USA Beziehungen zur syrischen Opposition in der Türkei, zu Teilen der Bevölkerung, selbst zu Kreisen innerhalb des Regimes. Wie will Russland diese Auseinandersetzung gewinnen? Sie werden verlieren. Ich wünsche mir, dass die Russen das irgendwann verstehen.

Bei der Syrien-Konferenz in Genf Ende Juni haben sie sich zusammen mit den USA, Frankreich, Großbritannien und China verpflichtet, Syrien beim Übergag zur Demokratie zu helfen. Was tun sie? Das Gegenteil! Sie bewaffnen das Regime, das diese Waffen gegen die eigene Bevölkerung einsetzt.

Welche Rolle spielt der fundamentalistische Islam, vor allem in Bezug auf die Freie Syrische Armee?

Die Menschen, die diese Revolution gemacht haben, sind zum größten Teil Muslime, aber keine Islamisten. Es gibt in dieser Revolution zwei Teile: die moderne Zivilgesellschaft und die traditionelle Gesellschaft. Die moderne Zivilgesellschaft besteht zum größten Teil aus jungen Leuten, die nicht besonders gläubig sind. Die traditionelle Gesellschaft hat bei dieser Revolution nicht deshalb mitgemacht, weil sie einen islamischen Staat wollte, sondern weil sie für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit war.

Die staatliche Macht hat ihre Repression auf die moderne Zivilgesellschaft gerichtet und diese beinahe vernichtet. Das hat die traditionelle Gesellschaft gezwungen, sich zu bewaffnen und sich zu radikalisieren. Zunächst gab es keine Islamisten. Jetzt gibt es eine kleine Gruppe von Islamisten, die ziemlich zerstreut ist, aber von Sendern wie Al Jazeera und al-Arabiya in den Mittelpunkt gerückt wird. Die Türkei hat einige Kongresse organisiert und dazu Islamisten aus der ganzen Welt zusammengetrommelt, die in Syrien völlig unbekannt waren und es bis heute sind.

Vor kurzem hat die FSA einen Befehl ausgegeben, dass kein Mitglied der FSA Mitglied in einer Partei sein darf, weder in einer politischen, noch in einer religiösen Partei. Das bedeutet, die Führung der FSA möchte die Islamisten aus ihren Reihen ausschließen. Außerdem hat die FSA jetzt eine Erklärung verabschiedet, nach der Gefangene nicht gefoltert werden dürfen und das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren haben.

Aber das Geld fließt letztlich doch aus Saudi-Arabien und Katar.

Katar unterstützt die Muslimbrüder und Saudi-Arabien die Salafisten. Beide Gruppen sind zerstritten, sehr schwach und isoliert von der Bevölkerung. Wir haben Freunde, die regelmäßig nach Syrien reisen und uns über die Lage vor Ort berichten.

Vor kurzem gab es eine Umfrage in Hama, bei der herausgekommen ist, dass nur 4% der dortigen Bevölkerung Vertrauen zu den Muslimbrüdern haben. Die islamistische Gefahr wird im Westen sehr aufgebauscht, damit man die notwendigen Alibis hat, um nichts zu tun.

Was sind die Vorstellungen der Opposition für ein Syrien nach Assad – politisch, ökonomisch, sozial?

Nach Assad werden wir eine demokratische Regierung haben, ein Regierung, die ein militärisches Problem hat, ein ökonomisches, ein soziales und ein Problem der Definition der syrischen Identität. Es wird entscheidend sein, ob wir diese Probleme schnell im Rahmen einer nationalen Einheit lösen können.
Für mich erklärt sich die gegenwärtige Situation dadurch, dass es Kräfte gibt, die ein Interesse daran haben, Syrien zu zerstören. Das sind die USA und Israel. Jetzt zerstört das Regime in Damaskus, das sich immer als Regime des Widerstands gegen Israel dargestellt hat, das eigene Land unter den Augen der Israelis – mit den Waffen, die eigentlich gegen Israel eingesetzt werden sollten. Ich vermute, das Regime glaubt, dass die USA nach dem Ende dieser Zerstörung keine Alternative finden und akzeptieren werden, dass das Regime in ihrer Abhängigkeit bleibt und den Plänen der USA dient.

Syrien ist ein unmittelbares Nachbarland Israels, und es spielte eine zentrale Rolle im Nahostkonflikt. Wenn Syrien zerstört ist, liegt das im strategischen US-amerikanischen und israelischen Interesse. Wenn das Regime sich retten kann, wird das die gesamte demokratische Entwicklung in der Region zurückwerfen. Auch das läge im US-amerikanischen Interesse. Die USA wollen kein demokratisches Syrien, weil sie Angst um die Golfstaaten, das Erdöl und die Petrodollars haben.

Gibt es etwas, das die westliche Linke tun kann, um die Demokratiebewegung in Syrien zu unterstützen?

Wenn ihr an einer wirklich gesunden Entwicklung der politischen Linken interessiert seid, dann solltet ihr den demokratischen Kampf der syrischen Bevölkerung unterstützen und euch nicht mit diesem Märchen über den Islamismus beschäftigen. Wenn ihr dazu beitragen könnt, Syrien vor der Zerstörung zu retten, wird das gut sein für die Entwicklung der Demokratie und für eure eigene Entwicklung.

Der Sieg der Demokratie in Syrien wäre eine Wende, nicht nur in der Region, sondern auch in Europa. Wenn eine Bevölkerung ohne politische Parteien gegen ein derart tyrannisches Regime siegt, dann hat das eine Bedeutung für viele andere Kämpfe. Dies ist das erste Mal in der syrischen Geschichte, dass die traditionelle Gesellschaft individuelle Freiheit verlangt hat, dass sie sich als Gesellschaft verhalten und nicht im Rahmen von Gruppeninteressen agiert hat.

Historisch betrachtet kann man sagen: Diese orientalische Welt möchte jetzt zum ersten Mal in ihrer Geschichte modern werden, in ihren Grundlagen, in ihren Strukturen und als Teil der internationalen Gemeinschaft.

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