Deutsche Wirtschaft nähert sich der Rezession
von Paul Michel
Eine Zeit lang erweckten Politiker und Ökonomen den Eindruck, als wäre die BRD ökonomisch eine «Insel der Seligen». Mit stolz geschwellter Brust posaunten sie Erfolgsmeldungen heraus. Ex-Wirtschaftsminister Brüderle schwadronierte 2010 von einem dauerhaften XXL-Aufschwung. Noch Anfang 2012 prägten die Sprachakrobaten des Spiegel den Begriff «Boom Boom Deutschland». Die sich häufenden Stimmen, die finstere Wolken am deutschen Konjunkturhimmel heraufziehen sahen, wurden mit Meldungen von der erstaunlichen Robustheit des deutschen Aufschwungs gekontert. Seit August 2012 jedoch wird es für Zwangsoptimisten immer schwieriger, das Offenkundige zu leugnen: Auch in der BRD klopft die Rezession an der Türe.
Das gewerkschaftsnahe Wirtschaftsforschungsinstitut IMK spricht von einem «deutlichen Anstieg der Rezessionswahrscheinlichkeit». Die OECD geht noch einem Schritt weiter. Sie sagt für Deutschland im zweiten Halbjahr eine Rezession voraus. Die Wirtschaft werde im dritten Quartal um 0,1%, im vierten Quartal um 0,2% schrumpfen.
Pleiten und Entlassungen
Damit wird von berufener Stelle ausgesprochen, was als Tendenz längst erkennbar war. Seit Beginn des Jahres hat die Anzahl der Insolvenzen und der davon betroffenen Beschäftigten stark zugenommen. Die Presse nennt die Einzelfälle, der Zusammenhang wird unterschlagen: Die Insolvenz der Drogeriemarkkette Schlecker, die fast 30.000 Beschäftigten den Arbeitsplatz kostete, gehört zu den größten Firmenzusammenbrüchen der jüngeren Zeit.
Beim Druckmaschinenhersteller Manroland, der Großbäckerei Müller-Brot und bei mehreren, erst vor wenigen Jahren gegründeten Solartechnikfirmen haben weitere tausende durch Insolvenz ihren Arbeitsplatz verloren – über 150.000 sind es zusammen mit denen, die unmittelbar fürchten müssen, ihn zu verlieren.
Daneben ist die Zahl der Großunternehmen, die über schleppende Geschäfte klagen und Personalabbau ankündigen, stark gestiegen: Siemens verzeichnet in einigen Bereichen deutliche Einbrüche beim Auftragseingang und plant den Abbau mehrerer tausend Stellen. Die Telekom will von 3200 Stellen in ihrer Konzernzentrale 1300 bis zum Jahr 2015 streichen. Der Energiekonzern RWE plant zusätzlich zum bereits bekannten Abbau von 8000 Jobs die Streichung weiterer 2000–5000 Stellen. Dem Umbau des Pharma- und Chemiekonzerns Merck sollen bis Ende 2015 rund 1100 der 10.900 Arbeitsplätze zum Opfer fallen. Der Stahlkonzern ThyssenKrupp denkt öffentlich über die Einführung von Kurzarbeit für tausende von Stahlarbeitern nach. Der angeschlagene Autobauer Opel bastelt an Plänen für die Schließung seines Werks in Bochum, wo im Moment 3200 Menschen arbeiten.
Die schwache Konjunktur machte sich im August erstmals in der offiziellen Arbeitslosenstatistik bemerkbar: Die Zahl der Arbeitslosen stieg im August auf 2,9 Millionen, 29.000 Menschen mehr als im Vormonat waren ohne Job. Der Anstieg fiel stärker aus als sonst in dem Sommermonat üblich.
Der Exportmotor stottert
Nach Ansicht von Experten ist dies erst der Anfang. Fast alle wichtigen Exportbranchen der BRD haben Probleme. Beim Maschinenbau gingen in den ersten vier Monaten dieses Jahres 8% weniger Bestellungen als im Vorjahr ein, der Auftragseingang aus dem Euro-Raum ging sogar um 12% zurück. Chemieindustrie und Elektroindustrie kassierten Anfang September ihre früheren optimistischen Prognosen. Die Chemieindustrie rechnet nun mit einem Produktionsrückgang von 3%. Viele Industriekunden seien wegen der Euro-Schuldenkrise verunsichert und bestellten weniger Chemikalien.
Die exportorientierte deutsche Elektroindustrie kappte ihre Produktionsprognose von 5% Wachstum in diesem Jahr auf ein Plus von 1–2% (Süddeutsche Zeitung 6.9.2012). In der Autoindustrie bekommen die Produzenten von Klein- und Mittelwagen (Opel, Ford, Fiat, Peugeot) den Nachfragerückgang in Südeuropa zu spüren. Allerdings erlebt inzwischen auch der Premiumklasse Hersteller Daimler eine Absatzdelle: In Westeuropa als dem wichtigsten Markt erfuhr er im Juli ein Minus von 10%, selbst in China lieferte der Konzern weniger aus.
Seit Jahresbeginn 2012 gibt es dramatische Einbrüche beim Export in die südeuropäischen Länder. «Sinkende Nachfrage aus Euro-Krisenländern.
Deutsche Exporteure punkten nur noch in Übersee», schrieb Focus Money am 30.8.2012 und nennt Details: «Die Exporte in die Euro-Zone sanken im ersten Halbjahr um 1,2% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Das teilte das Statistische Bundesamt am Donnerstag mit. Die Ausfuhren in das rezessionsgeplagte Portugal brachen mit minus 14,3% besonders stark ein. Die Exporte nach Spanien sanken um 9,4%, die nach Griechenland um 9,2% und die nach Italien um 8,2%.»
Wenn China hustet…
Bis vor kurzem konnten die deutschen Exportunternehmen die Schwächen in Europa durch glänzende Geschäfte mit den aufstrebenden Schwellenländern wie China, Indien oder Brasilien wettmachen. Das trifft auch noch für das erste Halbjahr 2012 zu. Trotz des Einbruchs in den Euro-Peripheriestaaten stiegen die deutschen Gesamtausfuhren von Januar bis Juni 2012 um 4,8% auf 550,5 Mrd. Euro, weil gleichzeitig die deutschen Exporte in Nicht-EU-Staaten überproportional um 11,1% stiegen. Binnen zwölf Monaten stieg der Anteil der Exporte in die sog. Drittländer (Nicht-EU-Länder) von 39,7 auf 42% Sie übersteigen damit erstmals die deutschen Exporte in die Eurozone (40%).
Im Verlauf des Jahres 2012 trübte sich auch in den Schwellenländern die Konjunktur deutlich ein. In Brasilien senkte die Regierung im Juli das Wachstumsziel für 2012 von 4,5 auf 3%. Auch die indische Wirtschaft ist seit einem Jahr in einer Schwächephase. Statt 9%, wie noch vor einem Jahr, verzeichnete die Konjunktur zuletzt nur noch einen Zuwachs von 5,5%.
In China wuchs die Wirtschaft im zweiten Quartal so langsam wie seit drei Jahren nicht mehr. Tatsächlich gingen in China im Juli sowohl die Importe als auch die Exporte deutlich zurück. Im Juli 2012 gab es bei Chinas Exporten einen dramatischen Einbruch. War der Export im Juni noch um 11,3% gestiegen, gab es im Juli nur noch ein Plus von etwa 1% im Vergleich zum Vorjahr. Auch der Anstieg der Importe nach China blieb bescheidener als erwartet, anstatt der erwarteten 7% gab es lediglich 4,7%.
Über die Ursachen für diese Rückgänge schreibt die New York Times am 1.August: «Die Turbulenzen in Europa und die kraftlose Gangart des Wachstums in den USA ziehen in zunehmenden Maße Exporte aus China und anderen exportorientierten Ländern in Asien herunter.» Und die Zeit merkt zu den Ursachen der Wachstumsschwäche der chinesischen Wirtschaft an: «China leidet auch unter der Krise in Europa.»
Dass das für die deutsche Industrie Folgen hat, liegt auf der Hand. Der Rückgang ist auch eine schlechte Nachricht für die deutsche Exportwirtschaft, die bisher vom Wachstum in China profitiert hatte. Vor allem Auto- und Maschinenbauer konnten sich über stetig steigende Absätze freuen. Dieser Boom droht sich nun abzuschwächen.»
Wenn auch die Wirtschaftspresse keine genaue Zahlen für das Chinageschäft meldet – prompt kam es einen Monat später zu einem Einbruch bei den deutschen Exporten: «Die Aufträge der deutschen Exporteure fielen im August so stark wie seit über drei Jahren nicht mehr, teilte das Markit-Institut mit.» (Spiegel Online, 3.9.2012.)
Die Kehrseite der Sparprogramme
Nachdem die deutsche Exportwirtschaft wie ein Phönix aus der Asche der tiefen Krise von 2008/09 auferstanden war, hatten die Lautsprecher des Kapitals immer wieder von der «Robustheit» des deutschen Aufschwungs geschwärmt. Es wurde der Eindruck erweckt, als könne man die Rezession sozusagen aus dem Land exportieren.
Einige Zeit schien die Realität den Schönrednern recht zu geben. Während sich fast alle europäischen Volkswirtschaften, die USA und auch Japan mit Stagnation oder Rezession herumschlugen, glänzte die BRD mit überraschend hohen Wachstumsraten. So konnte der Eindruck entstehen, dank deutscher «Wertarbeit» und deutscher Arbeitstugenden lebe man ökonomisch auf einer Insel der Seligen.
Diese Phase scheint jetzt zu Ende zu gehen. Die deutsche Exportwirtschaft bekommt nun die Folgen von Merkels Ultraneoliberalismus mit den erzwungenen Kaputtsparprogrammen für die Länder der europäischen Peripherie zu spüren. Dadurch wurde die ökonomische Talfahrt vieler Länder in Europa beschleunigt, Europa gilt mittlerweile als Problemzone Nummer Eins der Weltwirtschaft.
Ausbaden müssen den Schlamassel nicht die Verursacher in Politik und Wirtschaft, sondern die Lohnabhängigen in der BRD. Viele von ihnen, die sich ihren griechischen, spanischen oder italienischen Kollegen überlegen fühlten und ihre Interessen bei Angela Merkel in guten Händen wähnten, werden in den nächsten Monaten möglicherweise auf sehr schmerzhafte Art und Weise erfahren, dass sie mit einem Arbeiter in Spanien und einem Staatsangestellten in Griechenland mehr gemeinsam haben, als sie dachten. Es stehen harte Zeiten bevor.
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