Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2012
Stuttgart: Reclam 2011. 207 S., 22,95 Euro
von Peter Fisch

Alan Steinweis, Historiker und Direktor des Center for Holocaust Studies an der University of Vermont, hat auf ein bekanntes historisches Ereignis, die «Reichskristallnacht» vom November 1938, einen frischen Blick geworfen, neue Problemstellungen fixiert und Antworten gefunden, die die bisherigen Erkenntnisse nicht unwesentlich erweitern bzw. korrigieren.

Indem er den Fokus auf die Täter richtet, geht der Verfasser von der Prämisse aus, dass deren Handeln vom 7. bis 11.November 1938 entscheidende Aussagen über die Haltung der Deutschen zur NS-Politik gegenüber den Juden, wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, zulässt. Seine Darstellung gewinnt vor allem deshalb an Wert, weil der von ihm genutzte Quellenkorpus über den Pogrom wesentlich umfangreicher ist, als das bisher möglich und üblich war. Dazu zählen: die Akten der nach 1945 durchgeführten Prozesse gegen die Pogrom-Täter, die Sammlung mehrerer hundert jüdischer Zeugenaussagen, die in der Wiener Library in London lagern, sowie die Arbeitsergebnisse einer deutsch-israelischen Forschungsgruppe, die rund 4000 Dokumente, besonders von Lokalarchiven, systematisiert zusammengestellt hat.

Erwähnenswert ist, «dass nach 1945 mehr als 7000 Deutsche in etwa 1200 Prozessen für Verbrechen im Zusammenhang mit der Kristallnacht vor westdeutschen Gerichten angeklagt» wurden. Zahlen über die sowjetische Zone bzw. DDR werden leider nicht genannt. Der Autor hat die verschiedenen Tätergruppen und Mitwirkungsformen (Brandstiftung, Zerstörung, Verwüstung, Plünderung, Demütigung bis hin zum Mord) präzise herausgearbeitet. Er kommt zum Ergebnis, dass die These von der Missbilligung des Pogroms durch fast die gesamte deutsche Bevölkerung einer Korrektur bedarf. Immerhin billigten größere Teile von ihr oder unterstützten gar direkt das brutale Vorgehen gegen die Juden.

Welche Erkenntnisse gewinnt Steinweis? Die damaligen Vorgänge ereigneten sich an hunderten von Orten, beginnend in Kassel und im kurhessischen Raum. Mit direkter Bezugnahme auf die Tötung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan in Paris koordinierte die Naziführung den Pogrom erst ab dem 9.11., jetzt die propagandistische Chance erkennend. Dessen Chronologie bedarf also einer Neubewertung. Bewiesen wird, dass zwischen den Ereignissen am 7. und 8.11. und denen vom 9. bis 11.11. eine kausale Verbindung besteht.

Die bisherige Einschätzung, die Täter des Pogroms hätten sich fast ausschließlich aus SA-Angehörigen und Mitgliedern anderer Gliederungen und Organisationen der NSDAP rekrutiert, ist so nicht haltbar. Sicherlich stellten sie die Kerntruppe des Verbrechens, doch der Kreis der Beteiligten weitete sich beständig aus und erfasste auch Teile der Arbeiter, der Hitler-Jugend, ganze Schulklassen, in Marsch gesetzt von Lehrern, und nicht wenige Frauen. Viele Zuschauer drückten durch Häme, Lieder, Lachen und anfeuernde Gesten ihre Zustimmung aus, leisteten also psychologische Täterhilfe, während die Polizei zumeist passiv blieb. Dass die Mehrheit der Deutschen nicht am Pogrom beteiligt war, ist unstrittig. Die Gewalt wurde mehrheitlich abgelehnt, aber längst nicht so eindeutig, wie oft behauptet.

Insgesamt gesehen, steht die «Reichskristallnacht» in der Kontinuität der antisemitischen Maßnahmen seit Hitlers Machtantritt, weist aber zugleich wesentliche Steigerungen in der Richtung auf, ganze Bereiche der Gesellschaft auf das Mittun am Verbrechen des Krieges und der Shoah vorzubereiten. Die vorzügliche Darstellung ist flüssig geschrieben und enthält einen hilfreichen Anmerkungs- und Registerteil.

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