Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2012
von Gaston Kirsche

Neue und anspruchsvolle Produktionen laufen beim jährlichen Festival des Italienischen Films im Original mit deutschen Untertiteln, das bis zum 19.Dezember durch 29 Städte und 32 Kinos tourt. Dieses Jahr wird CINEMA! ITALIA! 15 Jahre alt. Zeit, sich nach der Pubertät in der Arbeitswelt zu orientieren: Drei von sechs Filmen stellen dieses Jahr die sozialen Verwerfungen durch die Krise in den Mittelpunkt.

Unter der nichtgewählten Technokratenregierung von Mario Monti haben sich das Schuldendiktat und die Privatisierungsdoktrin noch weiter verschärft. Die Verzweiflung in der Arbeiterklasse und der Mittelschicht nimmt dramatisch zu, aber auch die teilweise filmreife Empörung.

So besetzten 100 Minenarbeiter die einzige, von der Schließung bedrohte Kohlenmine Carbosulcis auf Sardinien – nicht nur, sie verschanzten sich dort auch Ende August mit 350 Kilo Sprengstoff 400 Meter unter Tage. Als ein Fernsehteam sie besuchte, schnitt sich ein Minenarbeiter mit einem Messer den Arm auf, um dramatisch zu zeigen, dass es um ihre Existenz geht. In Italien leiden wie in Spanien und Griechenland die unteren Einkommensschichten und die Einkommenslosen heftig unter der neoliberalen Austeritätspolitik.

Ist das italienische Kino auch in der Krise? Kommt jetzt als Antwort ein Neo-Neorealismus?

Das italienische Kino ist schon seit Jahren in der Krise, behauptete zumindest der Regisseur Ermanno Olmi bereits vor Jahren in einem Aufsatz in La Repubblica: Für Olmi spiegelt das Kino die «globale Krise, die alle Gesellschaften betrifft, nicht nur die italienische». Damit meint er: «Das Kino zeigt, dass sich unsere Realität in einem ziemlich konfusen und orientierungslosen Zustand befindet.»

Der italienische Historiker Ernesto Galli della Loggia klassifizierte im Corriere della Sera den Neorealismus definitiv als historisch – er sieht ihn gekoppelt an vergangene, starke soziale Bewegungen: die christliche oder die kommunistische: «Das Kino war Ausdruck einer populistischen und antibürgerlichen Ideologie, deren Höhepunkt der Neorealismus war.» Für Galli della Loggia als Konservativen steht eine Identitätssuche an, kein Neorealismus: «Im globalisierten Westen, der weder Volk noch Politik kennt, entdeckt man nun, wie schwer es ist, sich der Demokratie und menschlicheren Themen zu widmen ... Das Kino braucht heute einen neuen Bezug zur Realität.»

Ob die diesjährige Filmauswahl ihm Recht gibt, und geht es dabei um die Stiftung einer italienischen Identität? Oder geht es, auch in Zeiten gelähmter sozialer Bewegungen, neorealistisch um soziale Konflikte? Die Auswahl zeigt die unterschiedlichsten Zugänge zu italienischen Realitäten, der Schwerpunkt liegt auf der Arbeitswelt.

La nostra vita (Unser Leben) von Regisseur Daniele Luchetti, bekannt durch seinen vorigen Film Mein Bruder ist ein Einzelkind, beginnt fröhlich. Eine Hochschwangere und ihr Mann liegen zusammen auf dem Bett und singen zusammen ein Lied. Aber bald steht der Bauarbeiter Claudio (vielschichtig gespielt von Elio Germano) vor unerwarteten Problemen. Seine Frau stirbt bei der Geburt, er steht mit den Kindern alleine da. Auf der Baustelle scheint sich eine gute Gelegenheit zu ergeben, mehr zu verdienen: als Subunternehmer, der eine ganze Baustelle eigenverantwortlich betreut. Damit gerät Claudio in neue Probleme. Aber er wird unterstützt. Sein Alltag, mit den Kindern, der Arbeit ist eine ständige Herausforderung. Es wird gelacht, geweint, gekämpft... Die Kamera ist in La nostra vita oft dicht an den Gesichtern, nah an den Menschen, die Zuschauenden mittendrin im prekären Familienleben. Der Regisseur hatte zuvor einen Dokumentarfilm über besetzte Sozialwohnungen in Ostia gedreht: «Bei dieser Gelegenheit lernte ich eine andere Art der Armut kennen, als ich sie vielleicht erwartet hatte. Ich sah dort Leben, Heiterkeit.» Das hat Luchetti auf eine Spielfilmhandlung übertragen. «Das Italien von heute? Eine Baustelle voller Schwarzarbeiter auf der einen Seite, und diejenigen, die davon profitieren, auf der anderen.» Aber in den Vorstädten der Arbeiterklasse, die «vor Leben und Widersprüchen nur so sprühen», sieht er keine Resignation.

In Il mio domani (Die Zukunft liegt vor mir) erzählt Regisseurin Marina Spada von einer scheinbar erfolgreichen Geschäftsfrau in Mailand, Monica (überzeugend gespielt von Claudia Gerini). Durch den Tod ihres Vaters gerät ihr Leben plötzlich aus den Fugen. Die toughe Businessfrau muss sich dem Scheitern von Beziehungen stellen. Die Kameraeinstellungen in Il mio domani veranschaulichen auf gelungene Weise das Arbeiten in einer Konzernzentrale wie auch persönliche Auseinandersetzungen, die sich nicht wirklich von der Arbeit trennen lassen. Die Zuschauenden sind hier auch auf Distanz zur Protagonistin, durch Auslassungen, die auffordern, eine eigene Sicht auf die Konflikte zu entwickeln.

In L’industriale (Der Unternehmer) zeigt uns ein Altmeister, Giuliano Montaldo, der Regisseur von Sacco und Vanzetti seine Sicht der Krise: Dass Angst vor Verlusten die schlechtesten menschlichen Eigenschaften zum Vorschein bringen kann. Nicola (Pierfrancesco Favino) gehört eine Fabrik in Turin, ein Familienbesitz. Ohne Konzern im Hintergrund gerät die Fabrik durch die Wirtschaftskrise in die Schuldenfalle. Er ist gestresst, gehetzt. Da hilft auch die teure Armbanduhr, ein großes Haus nicht weiter. Die Ehe von Nicola und Laura (Carolina Crescentini) ist auch in der Krise, aber eigentlich braucht er Geld von ihr, um die Fabrik am laufen zu halten. Der Unternehmer ändert sich, wird skrupelloser. Aber kann er dadurch seinen Besitz, seine Ehe retten? Nicola kann sich im Film mehrmals entscheiden. Die Inszenierung ist spannend, die Filmmusik steigert die Dramatik. Ein Lehrstück, was sich hier vor unseren Augen abspielt. Die Krise wird tiefe Spuren hinterlassen.

Infos: www.cinema-italia.net

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