Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2012

"Marsch der Flüchtlinge"
von Angela Huemer

Ein Monat lang begaben sich Asylbewerber auf einen Marsch nach Berlin, nun kampieren sie auf dem Oranienplatz so lange, bis sie ihre Forderungen durchsetzen: Abschiebestopp, Aufhebung der Residenzpflicht, keine Unterbringung mehr in Sammellagern und die Möglichkeit, arbeiten zu dürfen, während sie auf den Ausgang ihres Verfahrens warten. Außerdem fordern sie die Anerkennung aller Asylwerber als politische Flüchtlinge.
Dass viele Flüchtlinge beim Versuch nach Europa zu kommen sterben, ist nun sogar in die breite Medienöffentlichkeit vorgedrungen. Sie ertrinken, verhungern, verdursten, werden vorher noch gekidnappt oder vergewaltigt – auf der Flucht, auf dem Meer, in der Wüste…
Dass Nichtregierungsorganisationen, mühsam darum bemüht, die Toten zumindest ihn ihren Berichten zu verewigen, auch Todesfälle in Deutschland verzeichnen, ist schon weniger bekannt – und dass diese Todesfälle meist Selbstmorde sind noch weniger.
Das ändert sich gerade dank der 600 Kilometer, die Asylwerber zu Fuß von Würzburg nach Berlin zurückgelegt haben. Erreicht haben sie auch, dass nun breit bekannt wird, dass sich Asylwerber allein durch diesen Marsch – der ja in gewisser Weise den in den letzten Jahren boomenden Pilgerwanderreisen ähnelt – strafbar machen, weil sie ihre Residenzpflicht verletzen.
Rund fünfzig Flüchtlinge überquerten am 5.Oktober die Glienicker Brücke zwischen Potsdam und Berlin, begleitet von rund 200 Unterstützern, seither harren sie in Kreuzberg in einem Protestcamp aus.

Ein Erbe des Reichs und der Nazis
Angesichts dieses Protestmarschs machte Oberstudienrat Michael Stoffels, seit Jahrzehnten engagiert in der Flüchtlingsarbeit tätig, dankenswerterweise am 8.Oktober in einem Leserbrief an die Taz nochmals auf den Ursprung der Residenzpflicht aufmerksam: «Die europaweit einmalige Residenzpflicht verdankt sich unserer faschistischen Vergangenheit und richtete sich vor allem gegen Zwangsarbeiter, wenn sie angetroffen wurden, ‹ohne im Besitze einer schriftlichen Genehmigung ihrer zuständigen örtlichen Polizeibehörde zu sein, wonach sie berechtigt waren, ihren Wohnort zu verlassen› (Polizeiliste 1944). Ihre historische, eindeutig rassistische Herkunft legitimiert den Protestzug der Flüchtlinge gegen Aufenthaltsbeschränkung und Lagerunterbringung mit allem Nachdruck.»
«Wie nur kann es zu einer für die Betroffenen so folgenschweren Einschränkung eines Grundrechts kommen?», fragte sich Michael Stoffels schon Anfang des letzten Jahrzehnts. Er sprach damals über den Fall eines Familienvaters in Duisburg, der zu einem Jahr Haft verurteilt wurde wegen «wiederholter Zuwiderhandlung gegen eine Aufenthaltsbeschränkung in vier Fällen» – diese Zuwiderhandlungen waren schlicht Besuche bei Freunden.
«Sind bürokratische Notwendigkeiten verantwortlich zu machen?», fragte Stoffels und berichtet von einer im Stadtarchiv Neuss aufgefundenen Polizeiliste aus dem Jahr 1944 mit einer Aufzählung von Namen polnischer und russischer Zwangsarbeiter, die mit einem Bußgeld von 15 oder 20 Reichsmark belegt wurden, weil sie im Stadtgebiet Neuss angetroffen worden waren, «ohne im Besitz einer schriftlichen Genehmigung ihrer zuständigen örtlichen Polizeibehörde zu sein, wonach sie berechtigt waren, ihren Wohnort zu verlassen».
«Die ‹Residenzpflicht› – ein Beleg für eine unselige historische Tradition?» Ja, folgert Stoffels, denn «immerhin galt die faschistische Ausländerpolizeiverordnung (APVO) von 1938 faktisch bis 1965, als ein neues Ausländerrecht in Kraft trat. Da mag es kaum verwundern, dass sich auch in neueren ausländerrechtlichen Gesetzestexten und Erlassen Formulierungen finden, die denen von 1938 verdächtig ähneln.» Tatsächlich geht die Regelung noch weiter zurück, bis ins deutsche Kaiserreich.
Seitdem Michael Stoffels das geschrieben hat, hat sich die Situation etwas verbessert. So beschloss in Brandenburg kurz nach der Landtagswahl 2009 die rot-rote Regierung die Erweiterung des Aufenthaltsbereichs der Flüchtlinge auf das ganze Bundesland. Doch ganz abgeschafft ist das unselige Gesetz auch in Brandenburg nicht: Die Residenzpflichtgrenze besteht noch nach allen Bundesländern mit Ausnahme von Berlin, und viele Flüchtlinge, denen man vorwirft, gegen die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes verstoßen zu haben, sind ihr noch immer unterworfen.
Mittlerweile haben sieben Bundesländer – Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg – den Aufenthalt auf das ganze Bundesland ausgedehnt. Thüringen macht es besonders kompliziert: Willkürlich wurden Landkreise zusammengelegt, in denen die Flüchtlinge sich frei bewegen können. In Bayern und Sachsen ist die Freiheit an den Regierungsbezirk gebunden.
Sarkastisch könnte man anmerken, dass die Flüchtlinge so mit deutschen Verwaltungsstrukturen vertraut gemacht werden. Bleibt nur zu hoffen, dass nun auch die deutschen Bürger mit den absurden Regelungen vertraut werden, mit denen Asylbewerber belastet werden. Denn eines ist sicher: Wo ein Kontakt zu Flüchtlingen möglich ist und zustande kommt, ist durch die Bank ungeheuer viel Engagement und Offenheit vorhanden. Als ich mich für den Flüchtlingsrat NRW vor neun Jahren mit dem Schicksal jugendlicher geduldeter Flüchtlinge vertraut machte, erfuhr ich wie großherzig Menschen sind, wenn man sie lässt, und wie groß das Unverständnis gegenüber unmenschlicher Bürokratie ist.

Quelle: www.grundrechte-report.de.

Teile diesen Beitrag:

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.