von Jochen Gester
«Schock-Nachricht» der Arbeitsministerin: Der Durchschnittsverdiener mit einem Monatseinkommen von 2500 Euro benötigt inzwischen mehr als 35 Versicherungsjahre, um auf über 700 Euro Rente zu kommen. Damit rückt die Rentenfrage im Bundestagswahlkampf ganz nach vorn. Deshalb schlägt Frau von der Leyen eine Zusatzrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung vor, die jedoch nur bekommt, wer mindestens fünf Jahre lang auch privat vorgesorgt hat. Die SPD hat das Leyen-Modell umgehend mit einem Reformvorschlag gekontert, den sie kühn «Solidarrente» nennt. Er ist nicht so weit von der CDU-Politikerin entfernt und hat auch schon ihre Sympathie gefunden.
Hier werden bereits die Pflöcke für eine Große Koalition eingeschlagen, was eine SPD in der Opposition jetzt natürlich nicht so laut sagen darf. Doch die Strategen aus dem Adenauer- und dem Willy-Brandt-Haus eint das Interesse, das Thema aus dem Wahlkampf zu nehmen. Denn sie sind gemeinsam die Architekten der Altersarmut.
In beiden geplanten Reförmchen geht es um ein enges Kernklientel von Beschäftigten mit klassischen Erwerbsbiografien, nicht um durchgreifende Verbesserungen für Millionen Betroffene. Doch schon diese eher kosmetischen Reparaturversuche führen zu fast empörenden Reaktionen im konservativen Lager. Die FAZ-Kommentatorin Heike Göbel sieht im Vorschlag der SPD für eine «Solidarrente» einen Vormarsch der unter dem Einfluss der Gewerkschaften stehenden Parteilinken, damit nehme die Rentenpolitik der Partei «weiter Kurs auf das Schlaraffenland». Dabei schreibt sie selbst, dass in dem Päckchen nicht mehr enthalten ist als die Umstellung des Vollanspruchs auf die Rente nach 45 Versicherungsjahren statt Beitragsjahren. In den Genuss der «Reform» kommen lediglich etwa 200.000 Männer und Frauen.
Chance auf eine Mehrheit gegen die Neoliberalen
Die politische Situation in der Rentenfrage ist recht übersichtlich und eindeutig. Alle Bundestagsparteien mit Ausnahme der Linkspartei stehen zur Agenda 2010 und zu der mit ihr beschlossenen Absenkung des Rentenniveaus auf 43%. Gleichzeitig lehnt eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, d.h. auch der FDP-Wähler, die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre strikt ab. Dies ist seit Jahren so, und die aktuellen Nachrichten dürfte diese Ablehnung eher zementieren.
Strukturell finden wir diesen Gegensatz zwischen parlamentarischen und gesellschaftlichen Mehrheiten in den meisten EU-Ländern, und dies ist auch der Hintergrund dafür, dass es seit den 90er Jahren, vor allem in Südeuropa und Frankreich, immer wieder heftige Streikbewegungen gegen Rentenkürzungen gibt. Nur auf diesem Weg können versteinerte Verhältnisse aufgebrochen werden. Ja, man könnte fast sagen, die «Rentenfrage» ist eine Art Achillesferse des Neoliberalismus, weil sie die Chance bietet, die Interessen ungewöhnlich breiter Mehrheiten zu artikulieren und kämpferisch zu vertreten. Das könnte wie ein Rammbock funktionieren, der eine zentrale Schwachstelle des Gegners angreift, um das ganze Verteidigungsbollwerk zu erschüttern.
Weil so etwas ohne die Nutzung und Einbindung gewerkschaftlicher Strukturen nicht funktionieren kann, soll hier untersucht werden, wie sich die IG Metall dazu positioniert.
Die Positionen der IG Metall
Schon vor der Konzeption der Agenda 2010 gab es Druck auf die IG Metall, sie solle den Standpunkt aufgeben, dass die gesetzliche Rentenversicherung allein einen armutsfreien Altersruhestand sichern können muss. Die Gewerkschaft reagierte mit einer Mischung aus Widerstand und Anpassung, die sich im «Zukunftsmanifest 2002» so anhörte:
«Die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung und die höhere Lebenserwartung der Menschen können die Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssystems im nächsten Jahrzehnt und darüber hinaus noch deutlich verschärfen. Grund genug, eine offene Diskussion über notwendige Ergänzungen zum System der paritätischen Finanzierung und die besten Wege der Kostenbegrenzung und Effektivitätssteigerung in den Systemen der sozialen Sicherung zu organisieren.»
2003 war dann jedoch klar, dass es nicht um «Effizienzsteigerungen», sondern um den krassen Abbau sozialer Errungenschaften ging. Auf dem 20.Gewerkschaftstag 2003 versuchten die Delegierten, eine rote Linie zu formulieren. In der Entschließung zu «Sozialstaat und Sozialpolitik» forderten sie: «Ein Absenken des Rentenniveaus unter die derzeit geltende Zielgröße von 67% des letzten Nettolohns eines Standardrentners (ist) nicht hinnehmbar … eine weitere Verschiebung der Finanzierung zulasten der umlagefinanzierten Rentenversicherung und zugunsten risikoreicher Kapitaldeckung lehnt die IG Metall ab.»
Der 21.Gewerkschaftstag (2007) fiel in die Schröder-Fischer-Ära. Die Delegierten schärften die zitierten Aussagen der Entschließung zur Altersversorgung nach und forderten eine abschlagsfreie Rente nach 40 Versicherungsjahren schon ab 60 Jahren, zudem die Weiterführung der Altersteilzeit und die Förderung der betrieblichen Altersversorgung als obligatorische zweite Säule. Zudem konkretisierten sie die Forderung nach Fortentwicklung der Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung, die alle Erwerbstätigen einbezieht.
Bekanntlich ist Papier geduldig. Der reale Konflikt äußerte sich dann so, dass der Vorstand von Delegierten kritisiert wurde, weil er die Kampagne gegen die Rente mit 67 zu schnell begraben hätte. Der Vorstand antwortete, die Kampagne sei nicht beendet, sondern werde anlässlich der Bundestagswahlen 2009 fortgesetzt. Davon war dann allerdings nicht viel zu sehen.
Krebsgang
Auch auf dem Gewerkschaftstag 2011 wurden die in den Vorjahren vereinbarten Eckpunkte für den Rentenzugang und die Reform der Rentenversicherung noch im Kern bestätigt, doch klarer als vorher drückte die Entschließung Nr.2 zum Thema «Sozialstaat reformieren» aus, dass die IG Metall keine wirkliche Strategie für die Durchsetzung ihrer Beschlüsse besitzt.
Die Ausführungen kulminieren nun in der Position «Flexible Ausstiegsmodelle statt Einheitslösung». Umgesetzt werden soll sie über die Verbesserung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, über die Tarifpolitik und über Betriebsvereinbarungen. Im besten Fall greift das in sehr gut organisierten Betrieben und ist ansonsten ein Gegenstand des betrieblichen «Häuserkampfs», also zerhackt in Mikrokonflikte, die auf die Inseln tarifgebundener Betriebe beschränkt bleiben. Für den Rest ist «die Politik» gefordert.
Die große Chance, die Rentenfrage zum Hebel für soziale Verbesserungen zu machen, bleibt ungenutzt. Detlef Wetzel, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, begründete das auf einer Pressekonferenz am 16.8.2012 so: «Wir werden alles dafür tun, dass die Rente mit 67 abgeschafft wird. Da das unter den gegebenen politischen Verhältnissen nicht wahrscheinlich ist, sind wir aber auch gefordert, andere Wege zu gehen. Politik und Arbeitgeber wollen die Rente mit 67. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass die Leute bis dahin auch arbeiten können.»
Alte im Betrieb nicht erwünscht
Wie wenig das gegenwärtig gesichert ist, zeigte die Befragung von 8485 Betriebsräten in mitbestimmten Betrieben durch die IG Metall. Das händeringend gesuchte Fachwissen der älteren Lohnabhängigen ist eine Fata Morgana. In den Belegschaften sind nicht mal 4% über 60 Jahre alt und nur 1% ist älter als 63. 80% der Befragen gehen davon aus, dass sie das gesetzliche Rentenalter nicht gesund erreichen. In 92% der Unternehmen gibt es Maßnahmen zur altersgerechten Arbeitsgestaltung selten oder nie, und Qualifizierungsangebote erhalten nur 3%. In nur einem Fünftel der Betriebe gibt es Angebote für einen flexiblen Altersausstieg, z.B. über die Altersteilzeit.
Wenn Unternehmer und eine parlamentarische Mehrheit den Sozialabbau predigen, kann man dagegen nicht viel ausrichten, heißt die Logik Wetzels. Danach hätte es einen Kampf um die 35-Stunden-Woche wohl nie gegeben. Die Presseerklärung zur Betriebsrätebefragung endet denn auch mit den Worten: «Wir lassen nicht zu, dass die Unternehmer und Politiker sich noch länger bei diesem wichtigen Thema wegducken. Mit Sonntagsreden ist jetzt Schluss – wir erwarten, dass gehandelt wird.»
Viel Gutes wird nicht zu erwarten sein, solange die Gewerkschaft nicht einen Weg zum Selber Handeln findet. Die Betriebsräteumfrage bestätigt, dass die Entwicklung der Rente auch für den noch relativ geschützten Teil der Arbeiterklasse ein heißes Eisen ist. Ob dies jedoch zu Initiativen führt, mit der Politik des hilflosen Abwartens und der Rücksicht auf den Exportweltmeister zu brechen, ist ungewiss. Wenn ja, dürfte dies auch eine Chance für die Gewerkschaftslinke sein, ihre marginale Position zu überwinden.
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