Erklärung der Flüchtlinge und Migranten
von Turgay Ulu
Ja, am 8.September starten wir einen Protestmarsch von Würzburg nach Berlin. Warum wir das tun? Wir tun das, weil wir Freiheit und Respekt wollen. Seit Monaten machen wir Aktionen, Boykotte und Hungerstreiks. Jetzt starten wir einen langen Marsch, der etwa einen Monat dauern wird. Als revolutionäre Flüchtlinge haben wir zuvor in den Lagern, in die wir gesperrt werden, mit verschiedenen Aktionen versucht, uns Gehör zu verschaffen.
Jetzt laufen wir nach Berlin, weil dort die Macht ihren Sitz hat. In der Geschichte hatten alle Freiheitsmärsche Punkte, die die Macht repräsentieren und die Freiheit einschränken, als Ziel. Wir machen das Gleiche. Unsere konkreten Forderungen sind bekannt: Aufhebung der Isolation, Schließung der Flüchtlingslager, Aufhebung der nur in Deutschland angewandten Residenzpflicht, Abschaffung der Gutscheine, die uns als unterste Klasse kategorisieren, Beendigung der Bemühung, uns in jahrelangen Asylverfahren fertig zu machen, weg mit Frontex, dessen Vorgehen für den Tod so vieler Menschen auf der Flucht verantwortlich ist, Schluss mit Abschiebungen in kapitalistisch-imperialistische Kriegsgebiete und Diktaturen.
Wir haben die Kriege, vor denen die Menschen flüchten, nicht begonnen. Wir haben nicht die Waffen produziert, die Menschen und Natur töten. Wir sind geflüchtet, weil wir dort, wo wir herkommen, nicht das Recht auf Leben hatten. Und wir müssen auch in den Ländern Europas, in die wir geflüchtet sind, gegen diejenigen ankämpfen, die uns das Recht auf Leben verweigern. Auf andere Weise ist es uns nicht möglich, unter menschenwürdigen Bedingungen zu leben.
Erst gestern habe ich bei der zuständigen Stelle versucht, die Genehmigung für den Gang nach Berlin zu bekommen. Weil ich hinterfragt habe, warum uns keine Reisefreiheit gewährt wird, haben sie mich aus dem Büro geworfen. Ja, sie haben jeden Ort besetzt. Wer will, soll weiter an die Lüge glauben, dass in der EU Reisefreiheit besteht. Aber wir sehen diese Lüge. Und uns kann niemand stoppen. Wir gehen weiter und heben damit die Grenzen auf.
Wir laufen, um die Isolation zu durchbrechen, zu der sie uns verurteilt haben. Wir appellieren an unsere unterdrückten, ausgebeuteten und diskriminierten Geschwister, an die Werktätigen. Der Kapitalismus will auch euch in Zukunft einsperren. Die arbeitslose Bevölkerung soll ausgeschaltet werden, indem sie in Lager gesperrt wird. Wir laufen, um diese Pläne bereits jetzt anzuprangern.
Wir belassen es nicht nur bei diesem Marsch. Wir versuchen, unter uns Solidarität und die Grundlagen für ein kollektives, alternatives Leben aufzubauen. Wir versuchen, unsere menschlichen Seiten lebendig zu halten, die durch Isolation und Vereinsamung vernichtet werden sollen. Wir versuchen, unsere Fähigkeiten zu entwickeln und ein anderes Leben aufzubauen, indem wir Camps gründen, in denen ein kollektives Leben stattfindet. In diesen Camps unterstützen wir uns gegenseitig theoretisch und praktisch bei der eigenen Weiterentwicklung. Jeder von uns versucht, die anderen bei der Entwicklung der schwachen Seiten zu unterstützen.
Erst gestern sind im Meer vor der Türkei 60 Flüchtlinge ertrunken. Wir haben gesehen, dass der Grenzfluss Meric voller Leichen ist. Wir haben die Bettler auf den Straßen Athens gesehen. Wir wurden Zeuge davon, dass junge Frauen auf der Flucht ihre Körper verkaufen mussten. Wir mussten mit ansehen, dass schwangere Frauen von der Polizei geschlagen und Flüchtlinge erniedrigt wurden. Wir wollen nicht Teil dieser Verbrechen sein, indem wir schweigen.
Damit wir schweigen, bedrohen sie uns mit Haft oder Abschiebung. Erst gestern ist einer unserer Freunde wegen Verletzung der Residenzpflicht festgenommen worden. Sie wollen uns dazu verurteilen, schweigend in den Käfigen zu verrotten, in die sie uns gesteckt haben.
Wir wollen nicht isoliert irgendwo verrotten. Wir ziehen es vor, zu laufen und uns zu befreien. Durch das Laufen wird man frei. Dann lasst uns laufen und schauen, was kommt.
7.9.2012
Aus: The Voice of Refugees and Migrants. Zeitung der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen. Nr.4, Oktober 2012 (www.refugeetentaction.net).
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