Vom 15. bis 22.September 2012 fuhr eine europäische Gruppe von Gewerkschaftern und solidarischen Menschen nach Griechenland, um sich selbst ein Bild zu machen von den verheerenden sozialen Zuständen und vor allem, um ein konkretes Zeichen der Solidarität zu setzen. Die nachstehende Vorstellung verschiedener Projekte, die mit gesammelten Spendengeldern unterstützt werden konnten, ist dem Reisetagebuch entnommen, das die Delegation im Laufe der Woche geschrieben hat.
Griechenland wird oft als «Experimentierfeld» bezeichnet für den Versuch, wie weit die Verarmung der Bevölkerung vorangetrieben werden kann. Griechenland scheint allerdings ebenso zu einem Labor zu werden, in dem neue Formen der Produktion und des Austauschs ausprobiert werden. So sagen die in Selbsthilfeprojekten Engagierten: «Bei uns ist eine ähnliche Situation wie in Nordafrika, es geht darum, das Regime zu stürzen. Nicht um einen Regierungswechsel, sondern um eine neue Gesellschaft, die sich aus der heutigen Situation heraus entwickelt.» Oder: «Wir Griechen brauchen keine wohltätige Hilfe, wir sind nicht schwach, wir haben die Macht, die Entwicklung Europas zu beeinflussen.»
Solche Worte klingen unglaublich utopisch, wie eine Botschaft aus einer andern Welt. Es ist allerdings eine frohe Botschaft, voller Hoffnung und Glauben an eine bessere Zukunft. Alle besuchten Projekte strahlen diese Zuversicht aus.
Das «Gesundheitszentrum der Solidarität» in Thessaloniki
Insgesamt etwa 40 Ärztinnen und Ärzte sowie weiteres medizinisches Fachpersonal arbeiten im «Gesundheitszentrum der Solidarität» in Thessaloniki – alle ehrenamtlich und unentgeltlich. Sie bieten eine Art erste Hilfe. Die Räume gehören der Regionalorganisation Thessaloniki des Gewerkschaftsverbands GSEE und werden dem Gesundheitszentrum unentgeltlich überlassen. Unser erster Eindruck: Hier wird in einem politischen Projekt gearbeitet. Antifaschistische Plakate hängen neben Kinderzeichnungen aus aller Welt und Informationen in mindestens vier nichteuropäischen Sprachen.
Die Ärzte des Zentrums intervenierten kürzlich in den öffentlichen Krankenhäusern, um eine «Blutspendeaktion» der Faschisten zu stoppen. Letztere hatten dazu aufgerufen, «griechisches Blut nur für Griechen» zu spenden. Die Krankenhausleitungen hatten die Aktion gestattet und die notwendigen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Dennoch wurde die Aktion für die Faschisten zum Fiasko: Außer ihren eigenen Leuten war niemand zur Blutspende erschienen.
Ursprünglich zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen gegründet, wird das «Gesundheitszentrum der Solidarität» zunehmend auch von Einheimischen in Anspruch genommen. Dem griechischen Gesundheitswesen stehen weitere Verschlechterungen bevor: Die rund 140 staatlichen Krankenhäuser sollen auf 60 reduziert werden.
Medikamente, die hauptsächlich gebraucht werden, sind Impfstoffe. Das Problem bei Medikamenten, die im Ausland gesammelt werden, ist die fehlende inländische Zulassung. Selbst wenn ein Medikament dieselben Wirkstoffe enthält, aber einen anderen Namen hat, ist es nicht zugelassen. Darum ist es am einfachsten, wenn die benötigten Medikamente vor Ort gekauft werden.
«Viomichaniki Metalleutiki», Thessaloniki
Hier wurden früher Kacheln, Bodenbeläge und speziell beschichtete Dämmplatten für Wärmeisolierung an Gebäuden hergestellt. Nach dem Konkurs der ehemaligen Muttergesellschaft Filkeram-Johnson gab es auch für «Viomichaniki Metalleutiki» keine Aufträge mehr. Die Kunden wanderten zur Konkurrenz ab oder bezogen die Produkte aus dem Ausland. Vieles spricht für einen betrügerischen Konkurs, der absichtlich herbeigeführt wurde.
Seit dem Mai 2011 haben die Arbeiter keine Löhne mehr bekommen. Im Juli setzte sich der ehemalige Besitzer endgültig ab. Es gab kein ausreichendes Rohmaterial mehr, mit dem man hätte weiter produzieren können. Die Belegschaft will sich aber nicht mit der Arbeitslosigkeit abfinden, sie will wieder selber produzieren. Aufträge gäbe es genug, auch aus dem benachbarten Ausland, aus dem Balkan, aus Zypern und aus Israel.
Unstrittig ist, dass das Inventar wegen der ausstehenden Löhne inzwischen den Arbeitern gehört. Was fehlt, sind die Besitzanteile an der Firma. Solange sie diese nicht haben, dürfen sie keine Produkte verkaufen. Die Arbeiter wollen sie vor Gericht einklagen, aber das Verfahren zieht sich hin. Nun soll mit einem Marsch nach Athen Druck gemacht werden. Die «Karawane der Solidarität» startet in Alexandroupoli, ganz im Nordosten und sammelt unterwegs weitere Teilnehmende. Die Ankunft in Athen ist für den 14.10. geplant. Dort wird man öffentlich dem Ministerpräsidenten die Forderungen übergeben. Die Arbeiter wollen den Platz vor dem Sitz des Ministerpräsidenten besetzen und ihn erst wieder verlassen, wenn ihre Forderungen erfüllt sind.
«Viomichaniki Metalleutiki» hat auch Kontakte zu Mondragón in Spanien, der weltweit größten Genossenschaft.
Ein selbstorganisiertes Gesundheitszentrum, Athen
Hier erklärt man uns, dass keine Geldspenden entgegengenommen werden. Geld scheint in Griechenland nach all den Korruptionsskandalen derart in Verruf gekommen zu sein, dass die verschiedenen Initiativen der Selbstorganisation so weit wie möglich ohne auskommen wollen. Stattdessen erhalten wir eine Liste mit den benötigten Medikamenten und werden gebeten, diese in der nahe gelegenen Apotheke zu besorgen. So kaufen wir für 500 Euro Impfstoffe für Kinder und andere medizinische Produkte. Der Apotheker legt von sich aus noch einiges drauf, weil er das Zentrum kennt.
Ein soziales Zentrum, Athen
Das autonome Zentrum in der Nähe des Polytechnikums befindet sich noch im Aufbau. Das Haus, in dem früher eine Privatschule untergebracht war, wird nach und nach renoviert, mit Materialspenden und unzähligen Stunden unentgeltlicher Arbeit. So weit wie möglich wollen sie ohne Geldspenden auskommen, nur mit Naturalspenden und freiwilliger Arbeit – erste Schritte hin zu einer neuen Gesellschaft, in der es kein Geld mehr geben wird.
Hier sind verschiedene Arbeitsgruppen tätig, unter anderem eine Rechtsberatung für Menschen, die sich weigern, die neuen, schlechteren Arbeitsverträge zu unterzeichnen. Ähnliche Initiativen gebe es in ganz Griechenland – eine breite Bewegung, der sich auch viele angeschlossen haben, die letztes Jahr den Syntagma-Platz besetzt haben. Demnächst werde eine Landkarte Griechenlands entstehen, wo jeder online seine Ortschaft anklicken und sehen könne, welche Möglichkeiten zur Selbsthilfe es an seinem Ort bereits gibt.
Der besetzte Campingplatz von Voula
«Unsere erste Aktion war, dafür zu sorgen, dass die Menschen wieder kostenlos im Meer baden können. Denn nebenan muss man 7 Euro bezahlen, damit man an den Strand kommt», erklärt uns der Mann, der uns an der Endstation der Straßenbahn Linie 5, die vom Syntagma-Platz nach Voula, einer Vorortgemeinde von Athen, führt, abholt, um uns das Gelände zu zeigen, das von der Küstenstraße bis an den Strand reicht und dem griechischen Staat gehört.
«Zwanzig Jahre lang war der Campingplatz nicht mehr benützt worden. Am 10.Juni haben wir das Gelände besetzt, damit es der Öffentlichkeit wieder zur Verfügung gestellt werden kann.» Die Aktivisten, die zur Organisation Enallaktiki Drasi (Alternative Aktion) gehören, säubern in Freiwilligenarbeit regelmäßig den Strand. Der Bürgermeister, der die Aktion unterstützt, lässt die Abfälle durch die Müllabfuhr abholen.
Von der Zentralregierung haben sie allerdings bereits Post bekommen: Die Sache sei nicht gesetzeskonform… Die Regierung will den gesamten Küstenstreifen von Saronikos, von Piräus bis Kap Sounion, zu einer Anlage für Luxustourismus machen. Betroffen wäre auch ein Behindertenheim auf dem angrenzenden Gelände. Die behinderten Kinder müssten weichen, damit nachher dort die Schönen und Reichen baden können.
Auf Eleftherotypia folgt die «Zeitung der Redakteure»
Babis Agrolabos, ein ehemaliger Redakteur von Eleftherotypia, hat uns eingeladen und will uns sein neues Zeitungsprojekt vorstellen. Die Büromöbel sind bereits da, alles andere fehlt noch. Die Vorbereitungen für die neue Tageszeitung laufen auf Hochtouren.
Von den hundert Leuten, die am Projekt mitwirken, kommen neunzig von Eleftherotypia (deutsch: «Freie Presse»), die seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 bis 2011 erschien. Sie beschäftigte früher 800 Menschen, darunter 200 Redakteure und Journalisten. Die neuen Zeitungsmacher setzen auf kollektive, genossenschaftliche Lösungen. Alle haben 1000 Euro in die Genossenschaft einbezahlt und eine Stimme auf der Versammlung, die alle drei Monate stattfindet und den Chefredakteur sowie die Ressortchefs wählt. Die Genossenschaft hält 51% der Anteile, die restlichen 49% sollen von beliebigen Geldgebern kommen.
Tagsüber gehen die Redakteure ihrer normalen Lohnarbeit nach, abends arbeiten sie unentgeltlich für die neue Zeitung. Die ersten beiden Monate werden alle umsonst arbeiten, danach wenigstens zum gewerkschaftlichen Mindestlohn. Damit das Projekt wirtschaftlich tragbar ist, brauchen sie mindestens eine verkaufte Auflage von 15000 werktags und 40000 am Wochenende. (Bei Eleftherotypia waren es 30.000 bzw. 100.000, Avgi, die Tageszeitung von Syriza, hat eine Auflage von 2500 bzw. 5000. Die Erstausgabe sollte am 15.Oktober erscheinen.)
Ein Treffen mit dem SYRIZA-Abgeordneten Kostas Isychos
Kostas Isychos, Mitglied des politischen Sekretariats von Synaspismos, schildert lebhaft und engagiert die katastrophalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände in seinem Land. Besonders beunruhigend ist für ihn, wie die Faschisten der «Goldenen Morgenröte» versuchen, das soziale Elend zu ihren Gunsten zu nutzen und wie der Staat ihnen freie Hand lässt. Die SYRIZA-Leute wollen den faschistischen Sumpf trockenlegen, bevor er endgültig zur Massenbewegung wird. «Wir müssen den Menschen wieder eine Perspektive geben, sonst gehen sie zu den Faschisten!» Nicht ideologische Konzepte, sondern praktische Solidarität ist gefragt. Darum setzt SYRIZA sich mit aller Kraft für Selbsthilfeprojekte ein.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war im letzten Winter das Kartoffelprojekt, welche die Produzenten für 20 Cent das Kilo direkt an die Verbraucher verkauften – bei 9 Cent Herstellkosten ein ausreichender Ertrag für die Bauern und ein guter Preis für die Konsumenten.»Im nächsten Winter werden wir dieses Projekt erweitern, mit zusätzlichen Produkten. Unser Ziel ist es, dass niemand in Griechenland Hungers sterben wird!»
Morgen fährt Kostas nach Spanien, um sich mit spanischen Gewerkschaftern zu treffen und den Widerstand gegen die Krisenpolitik der Troika zu koordinieren. Denn dessen sind sich wohl alle bewusst: Es wird keinen griechischen oder spanischen Ausweg aus der Krise geben. Eine wirksame Antwort auf den Angriff auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen können die Arbeitenden in ganz Europa nur gemeinsam finden.
Quelle: manfred.klingele@t-online.de. Das Reisetagebuch findet sich auf www.labournet.de.
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