Tag des Zorns
In 23 Ländern Europas kam es am 14.November zu gewerkschaftlichen und betrieblichen Protestaktionen gegen Sparpolitik, Prekarisierung und Massenarbeitslosigkeit, vor allem Jugendarbeitslosigkeit. Millionenfach wurde der Aufruf zum Generalstreik in Portugal, Spanien, Griechenland, Zypern und Malta, Italien und Belgien befolgt.
Spanien: 24-stündiger Generalstreik: In der Automobilindustrie, im Schiffsbau, in der Bau- und der Energiewirtschaft wurde er fast zu 100% befolgt, in den übrigen Bereichen zu 77%. 9 Millionen Menschen folgten dem gemeinsamen Aufruf der Gewerkschaften. Das öffentliche Leben kam fast komplett zum Erliegen, Schulen blieben geschlossen, für Bahnen, U-Bahnen und Busse wurde nur ein Mindestbetrieb aufrechterhalten. Die großen spanischen Fluglinien strichen die Hälfte der geplanten Verbindungen. Flankiert wurden die Streiks durch Demonstrationen in rund 120 Städten; in Madrid und Barcelona gingen 2 Millionen Menschen auf die Straße. Beim Versuch, zum Parlament vorzudringen, antwortete die Polizei, wie in Italien und Portugal, mit Gummigeschossen und Tränengas. Die anarchosyndikalistischen Gewerkschaften CGT und CNT demonstrierten getrennt, die Gewerkschaften der autonomen Arbeiter hingegen (Selbständige und Scheinselbständige) beteiligten sich so massiv wie noch nie. Die baskischen Gewerkschaften haben nicht zum Streik aufgerufen; hier wurde nur in wenigen Großbetrieben gestreikt wie bei VW, Mercedes und am Flughafen Bilbao.
Portugal: 24-stündiger Generalstreik: Der öffentliche Dienst war lahmgelegt, die Schulen geschlossen (hier streikten sogar die Schuldirektoren!), Notdienste in den Krankenhäusern, weitere Schwerpunkte im Verkehr und in den Häfen. Erstmals beteiligte sich an einem landesweiten Generalstreik auch die Vereinigung zum Kampf gegen die Prekarität, die im Sommer alle, einschließlich sich selbst, überrascht hatte, als sie hunderttausend Menschen zum Protest mobilisierte. Am Abend zogen eine Million Menschen vor das Parlament. Schwerer Polizeieinsatz: 120 Jugendliche wurden von Angehörigen der Bereitschaftspolizei und Sondereinheiten der «Anti-Terror-Bekämpfung» (die sonst nie bei Demos eingesetzt werden) festgenommen und abtransportiert. Die Festgenommenen wurden aber nicht in ein reguläres Polizeigebäude oder Gefängnis gebracht, sondern in ein ehemaliges Gerichtsgebäude auf einem bewaldeten Hügel (Monsanto) außerhalb der Stadt, das inzwischen privatisiert wurde. Sie sind rechtlos und haben keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit einem Anwalt.
Griechenland: Die Staatsbediensteten legten um 12 Uhr Ortszeit für drei Stunden ihre Arbeit nieder. Schulen und Ministerien blieben geschlossen. Um die Mittagszeit gab es eine Demonstration im Zentrum Athens. Ein 48-stündiger Generalstreik hatte hier am 6.November stattgefunden.
Der soziale Widerstand gegen die Politik der Troika setzt sich jetzt in anderer Form fort: Die Auszahlung einer weiteren Tranche des sog. «Rettungspakets» ist an die Entlassung von 150000 Staatsbeamten gebunden. Daraufhin haben die Staatsdiener, geführt von den Gewerkschaften, Rathäuser und andere kommunale Gebäude besetzt. Zahlreiche Bürgermeister weigern sich, die geforderten «Entlassungsliste» mit den Namen derer, die gefeuert werden sollen, herauszurücken.
Italien: Über 300.000 Menschen protestierten in mehr als 100 Städten, während die Hälfte der CGIL-Mitglieder dem Aufruf zur vierstündigen Arbeitsniederlegung folgten. Die große Überraschung des Tages aber war die enorme Mobilisierung der Studierenden und jungen Prekären. In Rom demonstrierten 50000 Studierende zusammen mit Lehrern, Aktiven der sozialen Zentren und Prekären unter der Losung: «Zusammen machen wir Angst». Die Demonstration hatte das Ziel, das Parlament zu umzingeln. Nach stundenlangen Verhandlungen griff die Polizei die bis dahin friedliche Demonstration mit Tränengas an. Die darauffolgende «Straßenguerilla» brachte den Verkehr zum Erliegen; mehrere Dutzend wurden verletzt, an die fünfzig festgenommen, ein Dutzend verhaftet.
Auch in vielen anderen Städten blockierten tausende Schüler und Studierende Eisenbahnlinien, Häfen, griffen Banken an. Die Polizei reagierte rabiat.
In Belgien legten die Arbeiter den Eisenbahnverkehr 24 Stunden lang völlig lahm; der Europäische Gewerkschaftsbund demonstrierte vor dem Gebäude der EU-Kommission in Brüssel.
In London gingen 150.000 Menschen auf die Straße. Die Atmosphäre war eher desillusioniert, weil ein Streik gegen die Rentenkürzungen abgesagt worden war und Kürzungen und Privatisierungen im öffentlichen Sektor bislang auf wenig gewerkschaftlichen Widerstand stoßen. Linke Gewerkschaftsführer forderten unter großem Beifall den Generalstreik. Rund 80 Anti-workfare-Aktivisten blockierten eine Anzahl von Ladenketten, die Erwerbslose als unbezahlte Arbeitskräfte eingesetzt hatten. Die Initiative «Behinderte gegen Kürzungen» blockierte über eine Stunde lang die Park Lane, eine der geschäftigsten Prachtstraßen, mit einem Sit-In und banden ihre Rollstühle zusammen.
In Warschau gab es mit 1500 Teilnehmern vor dem Ministerium für Arbeit und Soziales die größte Demonstration. Aufgerufen hatten die Gewerkschaften OPZZ, FZZ und das «Büro für soziale Gerechtigkeit». Sie protestierten gegen zunehmende Schrottverträge, Arbeitslosigkeit, Armut und sinkende Reallöhne. In Katowice demonstrierten 800 Gewerkschafter von OPZZ, FZZ und Sierpien 80. Vor dem Woiwodschaftsamt in Wroclaw versammelten sich Gewerkschafter der Polizei, der Feuerwehr, der Lehrer und aus dem Gesundheitswesen und verlangten eine Anhebung des Mindestlohnes, eine Offensive gegen die Arbeitslosigkeit, die Abkehr von der Rente mit 67 und eine höhere Besteuerung der Reichen. Demonstrationen auch in Poznan (200 Gewerkschafter der OPZZ und IP, Arbeiterinitiative) und Gdansk.
Im türkischen Bursa besetzten Arbeiter ein Werk von Renault. Aktionen fanden auch in Rumänien und Bulgarien statt. In den skandinavischen Ländern, in Österreich und den Niederlanden organisierten Linke und aktive Gewerkschafter Solidaritätsaktionen.
In Frankreich gab es kleinere Kundgebungen in über 100 Städten. In Paris folgten 15.000 Menschen dem gemeinsamen Aufruf der Gewerkschaften.
In Deutschland waren es die radikale Linke und die linken Gewerkschaftsaktiven, die Partei Die Linke, Attac und die Occupy-Bewegung, die in rund 30 Städten Demonstrationen und Solidaritätsaktionen auf die Beine stellten – die meisten im unteren dreistelligen Bereich. Die Verbände des DGB bekundeten zwar ihre Solidarität mit dem Aufruf des EGB, aber nur an wenigen Orten schlossen sie sich den lokalen Bündnissen an oder organisierten eigene Aktionen in zeitlicher und örtlicher Nähe zu ihnen – so in Berlin und Stuttgart.
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