Die Skandale an der Berliner Charité reißen nicht ab
von Jochen Gester/Bernd Schultze
Im Oktober wurde bekannt, dass auf dem Campus Virchow der Berliner Charité Serratia-Bakterien den Darm von Neugeborenen befallen hatten. Während unter starkem öffentlichen Druck nach der Ursache der Infektion gesucht wurde, gab es einen Aufnahmestopp für drei Frühgeborenen-Stationen und zwei Stationen des Herzzentrums, weil hier angesteckte Kinder entdeckt wurden, ein infiziertes Kind war gestorben. Doch eine Obduktion des am Herzen operierten Säuglings ergab, dass das Kind nicht an den Keimen gestorben war.
Die Ereignisse schlugen hohe Wellen und beschäftigte die Medien und auch das Abgeordnetenhaus. Dazu hatte die Charité noch Zusätzliches beigetragen. Es dauerte nämlich über eine Woche, bis die Staatsanwaltschaft über die ungeklärte Todesursache des Kindes in Kenntnis gesetzt wurde, die Eltern des Kindes wurden nicht über die Todesursache informiert. Zwischendurch wusste angeblich niemand, wo sich der Leichnam des Kindes befand.
Für einen kurzen Moment wurde die Öffentlichkeit auf verstörende Weise mit den Zuständen im Gesundheitswesen konfrontiert. Gerade die Charité hatte in den letzten Jahren mehrfach durch Horrormeldungen für Schlagzeilen gesorgt.
In den Jahren 2005 bis 2006 tötete eine wohl traumatisierte Krankenschwester auf der Intensivstation der Kardiologie fünf Patienten. 2006 blieb ein Patient, der nur zu einer Augenuntersuchung einbestellt war, im Aufzug stecken und wurde erst nach vier Tagen entdeckt. 2009 führte erst der strenge Verwesungsgeruch dazu, dass ein toter Heroinabhängiger auf einer öffentlichen Toilette des Krankenhauses nach mehren Tagen entdeckt wurde.
Noch nicht vergessen war auch der Skandal in Bremen um den Tod von drei, möglicherweise auch sechs, Frühchen. Gegen den mittlerweile zurückgetretenen Chefarzt ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung. Die Station ist nach einem erneuten Ausbruch von Keimen mittlerweile geschlossen. Ein von der Staatsanwaltschaft beauftragter Gutachter hatte die mangelnde Hygiene für den Tod der Kinder verantwortlich gemacht und diese Tatsache wiederum auf die personelle Unterausstattung zurückgeführt, die das Einhalten der erforderlichen Hygienevorschriften unmöglich macht.
Arbeitsbedingungen
Es ist dieser Zusammenhang, der auch in Berlin kurz zum Thema wurde. Und gerade, als das Thema wieder drohte, an den Rand gedrängt zu werden, erschien ein bemerkenswerter Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Unter der Überschrift «Totgespart» dokumentierte die Journalistin Evelyn Roll an Hand konkreter Beispiele, wie die jahrelangen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen dazu führen, dass der Aufenthalt im Krankenhaus zu einem lebensgefährlichen Risiko wird. Dies bestätigten uns auch die Personalräte an der Charité, Carsten Becker und Stefan Gummert, die wir zur Situation befragt haben.
In Bezug auf die Hygiene erklärte Becker, ein Krankenhaus könne natürlich nicht steril sein und Patienten würden immer wieder infiziert werden, allein schon, weil die Angehörigen ja Zutritt haben sollen. Es komme aber darauf an, diese Infektionen möglichst gering zu halten. Damit geht es um die Themen Personal, Mittelzuweisungen und Kontrolle:
«Es gibt es zwei Stellschrauben, die besonders wichtig sind. Das ist einmal eine Mindestbesetzung mit Personal. Internationale Studien belegen: Wenn ich zu wenig Personal habe, ist das Risiko einer Infektion bei den Patienten viel höher. Die zweite Stellschraube ist, dass ich eine hohe Reinigungsleistung haben muss. Und die muss ich regelmäßig kontrollieren. Doch bei der Charité wurde die Reinigungsleistung, also die Stunden, die für Reinigung aufgewandt werden, reduziert, was auch damit zu tun hat, dass die (ausgelagerte) CFM sehr viel mit befristeten Arbeitskräften arbeitet. Die CFM ist laut Leistungsvertrag verpflichtet, bestimmte Standards einzuhalten. Doch sie darf selber kontrollieren, ob die Verpflichtung eingehalten wird. Das Reinigungspersonal, das ja auch geschult werden muss, besteht überwiegend aus befristet Beschäftigten, muss also immer wieder neu geschult werden. Hier stellt sich die Frage, wie intensiv diese Schulungen durchgeführt werden, ob sie z.B. muttersprachlich sind. Wir wissen als Betriebsräte, dass die Reinigungskräfte, wie alle andern auch, mit Stempelkarten arbeiten, und hier wird nicht erfasst, ob jemand länger braucht. Ist ein bestimmter Zeitpunkt überschritten, wird die weitere Zeit nicht mehr gewertet, das heißt auch nicht bezahlt. Das ist ein weiteres Druckmittel. Denn die Leute werden ausgewechselt, wenn sie die Zeit nicht eingehalten. Dazu kommen die Leiharbeiter, die gar nicht mehr betriebsintern von der CFM geschult werden.»
Unterfinanzierung
Auf die Frage, ob es einen inneren Zusammenhang mit den beschriebenen Horrormeldungen über die Zustände in der Charité gibt, antwortete er: «Die gemeinsame Erklärung ist, dass die Krankenhäuser kaputtgespart werden. Die Krankenhäuser haben zwei Finanzierungsquellen, einmal die Investitionsmittel der Eigentümer, sprich Länder und Kommunen, zum anderen die Behandlungskosten (Fallkostenpauschale). Die Fallkostenpauschalen decken nicht den erforderlichen Kostenaufwand, den ich brauche, um Menschen vernünftig zu behandeln, weder im Bereich Personalkosten noch im Bereich Sachkosten. Das erzeugt eine chronische Unterfinanzierung. Das gleiche Bild zeigt sich bei den Investitionsmitteln.»
Das wirft natürlich die Frage auf, welche Möglichkeiten eine Beschäftigtenvertretung und die sie stützende Gewerkschaft haben, um solche politischen Entscheidungen zu ändern. Denn ohne gesetzliche Änderungen (manchmal würde die Anwendung bestehender Gesetze schon reichen) werden die notwendigen Investitionsmittel nicht zu bekommen sein.
Doch der Zug – so der Personalratsvorsitzende – fahre gerade in die entgegengesetzte Richtung: «Wir haben ja jetzt die Schuldenbremse bei den Ländern und bei den Kommunen. Die Folge ist, dass es nicht mehr, sondern noch weniger Investitionen in diesem Bereich geben wird. Ein gesetzlicher Riegel müsste vor allem bei der Personalunterbesetzung vorgeschoben werden, was nicht passiert. Deswegen haben sich die Beschäftigen in der Charité jetzt auf den Weg gemacht, das tariflich zu regeln. In unserem Interesse und auch in dem der Patienten fordern wir eine Personalmindestbesetzung. Danach dürfte z.B. auf der Intensivstation eine Pflegekraft künftig nur noch höchstens zwei Patienten versorgen. Auf einer Normalstation darf es nicht mehr länger so sein, dass nur eine Person Nachtdienst hat. Hier schlagen wir einen Schlüssel von höchstens 1:5 vor. Das Ganze ist ein zusätzlicher Manteltarifvertrag.»
Das kostet natürlich Geld, und der Arbeitgeber hat die Wahl, entweder die Zahl der Behandlungen zu reduzieren oder den Personalschlüssel anzuheben. Wenn diese Frage nicht geregelt wird, macht auch die Durchsetzung von anderweitigen Verbesserungen wie altersgerechtes Arbeiten u.a. keinen Sinn, da für die Umsetzung das nötige Personal fehle.
Die Gewerkschafter an der Charité betonen, dass sie dies aus dem Streik der Erzieherinnen gelernt haben, die eine Reihe von Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erkämpften konnten, was ihnen jedoch wenig half, weil sie das erforderliche Personal nicht hatten.
Beckers Kollege Stefan Gummert beschreibt, wie die Belegschaft selbst zu diesem Prozess beitragen kann: «Die Gewerkschaft muss es schaffen, die Diskussion über dieses Thema kollektiver zu organisieren, z.B. auch die Schweigekartelle zu durchbrechen. Da sind solche Presseveröffentlichungen wie in der Süddeutschen Zeitung, in denen die Verhältnisse einmal skandalisiert werden, sehr hilfreich. Dann sind die Kolleginnen auf einmal viel auskunftsfreudiger. Plötzlich hast du die geschwärzten Gesichter in der Abendschau und Internetforen.»
Arbeitsethos
Der Krankenpfleger sieht hier Ansätze für ein Trendwende im öffentlichen Bewusstsein: «Ich habe das Gefühl, dass es in der Gesellschaft jahrzehntelang einen Verdrängungsprozess gegeben hat, um sich nicht mit Altern, Gesundheit etc. zu befassen. Wir sind ewig jung, ewig gesund. Wir werden jetzt 80 und natürlich ohne Falten. Da findet jetzt langsam ein Umdenken statt. Dies betrifft auch einen zweiten Faktor, dass nämlich der gesamte Bereich als Frauenarbeit jahrzehnte-, ja, jahrhundertelang karitativ organisiert wurde. Das bricht jetzt erst auf.»
Die Kluft zwischen der ständigen Ausweitung der zu behandelnden Patienten und dem dafür zur Verfügung stehenden Personal legt eine Zeitbombe, und es bleibt letztlich eine Frage des Zufalls, wann und wo diese hochgeht. Die Beschäftigten sind der entscheidende Punkt für die beiden Personalräte: «Es gibt Studien, die belegen, dass die gesteigerte Burn-out-Rate von Beschäftigten in Krankenhäusern nicht im wesentlichen auf die massive Arbeitsverdichtung zurückzuführen ist, die reell existiert, sondern auf die Tatsache, dass du – egal ob Schwester, Arzt oder Reinigungskraft – nach dem Dienst nach Hause gehst mit dem Bewusstsein, dass du nicht das tun konntest, was du gelernt hast und was eigentlich notwendig wäre. Das ist es, was die Beschäftigten verfolgt. Und dieses Horrorszenario muss endlich durchbrochen werden.»
Pflegedienstleiterin auf der falschen Seite
Die Wucht des publizistischen Einschlags bewog nun die Pflegedienstleiterin der Charité, Hedwig François-Kettner, dazu, einen offenen Leserbrief zu schreiben. Darin beklagt sie, die Journalistin der Süddeutschen Zeitung verletze die Mitarbeiter. Die sind jedoch froh, dass endlich jemand öffentlich ausspricht, was sich von ihnen niemand laut zu sagen traut.
Die Pflegedienstleiterin beklagt auch, die Journalistin habe nicht mit ihr gesprochen. Sie hätte dann wohl zu hören bekommen, dass sie 200 Service-Kräfte eingestellt und damit zu einem Arbeitsplatz verholfen hat. Aber Evelyn Roll hätte sie sicher auch gefragt, wie viel medizinisches Personal fehlt oder nicht ersetzt worden ist. Denn auch die Pflegedienstleiterin weiß, dass die Hilfskräfte keine examinierten Pflegekräfte ersetzen können.
Sie hätte sich vielleicht auch anhören müssen, dass Kolleginnen und Kollegen der Station so «motiviert» sind, dass sie allein eine Schicht übernehmen, in der sonst drei Pflegekräfte arbeiten. Die Mitarbeiter jedenfalls – dies konnten wir erfahren – sehen in der Pflegedienstleitung nicht mehr die Ansprechpartnerin für ihre Probleme. Ihr öffentliches Schweigen trügt. Sie haben nur Angst, die nötigen Überlastungsanzeigen zu stellen. Gerade für Mitarbeiter ohne festen Arbeitsvertrag ist das mit einem hohen Kündigungsrisiko verbunden. Viele wollen sich auch nicht nachsagen lassen, sie würden die Arbeit nicht schaffen.
Das Personal bleibt einer der entscheidenden Kostenfaktoren, vielleicht gibt es ja sogar Prämien auf nicht besetzte Stellen. Aber Patienten – Menschen – brauchen in erster Linie betreuendes Personal. Was nützt die teure, technisch aufwändige OP, wenn die Nachbetreuung nicht funktioniert? Früher wurde von einem therapeutischen Team gesprochen. Heute sehen viele Ärzte zu, dass sie mit vielen OPs der Klinik und sich selber Geld bringen. Die Nachbetreuung interessiert sie weniger.
Ist es nicht ein Hohn, wenn die Pflegedienstleiterin mit dem Hinweis punkten will, sie sei die Vorsitzende vom Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS)? Wie will sie diese Aufgabe als Vorgesetzte einer Einrichtung leisten, die die Sicherheit der Dividende über die Gesundheit der Patienten stellt?
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