Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Buch 8. Januar 2013

Frankfurt: S.Fischer, 2012. 399 S., 19,99 Euro
von Dieter Braeg

Marion Brasch erzählt von der Mutter, die aus Wien stammt, dem Vater, Horst Brasch, und ihren drei Brüdern. Ihr Vater bekleidete in der DDR höchste Ämter. Die Eltern, beide jüdischer Abstammung, lernten sich, nachdem sie dem Naziregime entkommen konnten, in London kennen und lieben. Sie gründeten eine Familie, und nach Kriegsende wollte man ein anderes Deutschland aufbauen. Das war nicht so einfach. Die drei Söhne gerieten nicht nach dem Vater, aber sie wurden alle als Künstler bekannt. Zwei als Schriftsteller, einer wurde Schauspieler. Der Prosaband von Thomas Brasch – 1976 aus der DDR nach Westberlin ausgereist –, Vor den Vätern sterben die Söhne, öffnete nicht nur mir ein neues Verständnis zu meinem im Jahre 1940 begonnenen Leben
Meine Generation hatte Kindheit, aber die war oft nicht beschreibbar. Als ich dann, dem Kindesalter entwachsen, Damals bei uns daheim von Hans Fallada las, da hab ich mir oft mein eigenes vergangenes Kinderleben neu erdacht, mir eine Fluchtleiter gebaut. Falladas Geschichten von Kinderfreundschaften, Sommerfrischefahrten und den Ungerechtigkeiten des damaligen Schulsystems gehören zu den wichtigen Büchern meines Lebens.
«Ich war vier Jahre alt, als ich das erste Mal von zu Hause fortlief. Ich kann mich nicht daran erinnern, doch mir wurde diese Geschichte immer wieder und von verschiedenen Seiten auf sehr widersprüchliche Weise kolportiert.»
So steht es im Prolog des Romans, der eigentlich gar keiner ist, denn Marion Brasch erzählt auf sparsame, schnörkellose und sehr einfühlsame Weise das Leben einer Familie und ihr eigenes.
Die Mutter, eine Wienerin, wusste, wie man die Kinder zur Ruhe brachte. Ihr «Ab jetzt ist Ruhe» gehörte zum Leben in der DDR, wie auch das, was in diesem Land gelebt wurde. In diesem Buch findet man Menschen, die haben nichts Romanhaftes, ihr Treiben in den Straßen, an anderen Orten lädt ein mitzumachen, mit zu leben. Man trifft Musiker, Zigarettenverkäufer, Händler, und wir lernen eine Sprache und Erzählweise kennen, die in der sich immer mehr verbiegenden Gegenwartsliteratur Seltenheitswert hat. Da gibt es Verständliches, Konflikte die bewältigt werden müssen, ohne die abwertenden Schlagworte, die in diesem nicht meinem Land Vergangenheit und Gegenwart oft auf so schäbige Art bewerten. Dennoch sind die Einschaltquotenmaschine und die Bestsellerheuchelei an diesem Buch vorbeigegangen
Die leider auch vorhandene, bösmeinende, Kritik, die der Autorin vorwirft, sie hätte ja ein «privilegiertes» Leben gehabt dank der hohen politischen Ämter ihres Vaters, hat das Buch wohl nicht wirklich gelesen, denn der Vater war ein Gegner von Privilegien, dies zeigen die geschilderten Wohn- und Lebensverhältnisse, die nicht mal den Hauch eines Luxuslebens hergeben.
Sicher und treffend vergleicht Marion Brasch ihre Position im Leben mit der ihrer Brüder: «Meine drei Brüder hatten schon so wichtige Dinge getan, als sie in meinem Alter waren. Sie hatten rebelliert, um ihre Träume ins Leben zu holen. Und ich? Keine Leidenschaft für nichts
Doch Marion Brasch hat Leidenschaften, die bekommt man mit, wenn sie über die Männer spricht, die sie in ihr Leben lässt. Ein Leben, das in dieser Medienwelt kaum noch Platz findet. Es ist traurig, dass es kaum Lesetermine in den Bundesländern gibt, die es besonders nötig hätten, etwas über das Leben in der DDR zu erfahren, zumal sie auch noch eine großartige Vorleserin ist. Aber vielleicht ändert sich das noch, ob in München, Wien oder Salzburg, da gibt es Literaturhäuser, die sollten schleunigst diese Autorin für eine Lesung verpflichten.
Die letzten Sätze des Romans sind eine Einladung, das ganze Buch zu lesen und eine Autorin kennen zu lernen, die zu den großen Erzählerinnen in unserem Sprachraum zählt:
«Schließlich fuhr ich zum Friedhof, auf dem meine Eltern lagen, und als ich an ihrem Grab stand, wartete ich wieder auf einen Gedanken. Er kam. Abwesend, dachte ich. Jetzt seid ihr alle abwesend. Das ist traurig, doch es hat auch was Gutes: Ihr könnt mir nicht mehr verlorengehen, weil ich euch schon verloren habe. Ich legte die letzten beiden Rosen auf das Grab meiner Eltern. Ich habe euch lieb, sagte ich. Und ab jetzt ist Ruhe.»

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