von Przemyslaw Wielgosz
Als vor fünf Jahren die erste Welle der Krise in Polen aufschlug, haben sich die größten Gewerkschaften wie kleine Kinder an der Nase herumführen lassen. Eine nach der anderen hat den Pakt der Regierung zur Krisenbewältigung unterzeichnet, dabei gaben sie den Arbeitgebern die Möglichkeit, noch einfacher als bisher Beschäftigte zu entlassen und noch mehr unsichere Arbeitsverträge abzuschließen.
An diese kompromittierende Schlappe sollten wir uns jetzt erinnern, wo fast alle, sogar die Experten aus dem Bankensektor, über den Niedergang der Wirtschaftsdynamik, hinter der die Rezession hervorlugt, klagen. Diese berührte 2010 die Peripherie der Euro-Zone und erreicht nun Polen.
Das gedankenlose Sternchen des polnischen Unternehmertums, Henryka Bochniarz (die Chefin des Verbands Privater Arbeitgeber), stellt die Einschnitte im EU-Haushalt als unumgänglich dar. Premier Tusk und der Minister für Finanzen, Rostowski, wissen sehr gut, warum sie sich um EU-Gelder bemühen. Obwohl Polens Beitrag zum EU-Haushalt 1% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der EU beträgt und Polen damit zu den Zwergen gehört, ist damit keine Wirtschaftspolitik zu machen – die USA nehmen 23% ihres BIP für den Haushalt in die Hand. Dabei hat Polen den EU-Subventionen viel zu verdanken, sie sind eine wichtige Quelle für die Schaffung von Investitionen.
Das Märchen vom freien Markt und niedrigen Steuern als Quelle für ein stabiles Wirtschaftswachstum und einer rationalen Verwendung der Ressourcen hält schon lange nicht mehr der Wirklichkeit stand, wie die Statistiken belegen.
Polens Paradox ist, dass die öffentlichen Investitionen (zusammen genommen sind es 5,7% des BIP, also einer der höchsten Werte in der EU) die neoliberale Doktrin des stabilen Wachstums stützen, ihm andererseits aber erlauben eine Politik zu machen, die sich auf diese Doktrin beruft. Gleichzeitig führt diese Politik jedoch zu Verschlechterungen auf dem Arbeitsmarkt durch Einfrierung der Löhne und Deregulierung des Arbeitsmarkts, da halten die Leute still, um ihren oder einen Arbeitsplatz zu erhalten.
In der vergangenen Dekade haben polnische Arbeiter kaum gestreikt. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern war unser Land ein gesellschaftlich befriedetes Land. Das Ergebnis der besiegten Arbeiterklasse, das geschuldet war der Kapitulation der großen Gewerkschaften, waren zweistellige Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, die Privatisierung der Sozialsysteme, der Renten vorneweg (sog. offene Rentenfonds), und eine starke Zunahme der Deregulierung der Arbeitsverhältnisse. Das Kapital forciert mit Hilfe des Staates seine eigenen Interessen, indem es all dies den Gewerkschaften als unabdingbares Erfordernis im Konkurrenzkampf mit den billigen Arbeitskräften Chinas, der Globalisierung, der Krise usw. verkauft.
Armut wie in Griechenland ist in Polen die Norm
Warum ist das so schlimm? Laut Eurostat lebten im vergangenem Jahr in der EU 119,6 Millionen Menschen am Rande der Armut. Das sind 24,2% aller Einwohner. In Polen sind es 27,2% der Bevölkerung. Vergleichen wir dies mit dem von der Krise am stärksten betroffenen Land, nämlich Griechenland, zeigt sich, dass es überhaupt nicht begründet ist, Polen als grüne Insel in der Krise zu bezeichnen.
Während in Griechenland in den letzten zwei Krisenjahren die Zahl der am Rande der Armut lebenden Einwohner auf 31% stieg, ist dieser Anteil in Polen seit Jahren die Norm.
Seit zwei Jahrzehnten lebt die polnische Gesellschaft im Zustand einer permanenten Krise. Diese Situation erklärt sich aus der Schwäche der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen in Polen – der ökonomische Druck zerstört die solidarischen Netzwerke und den Glauben an eine demokratische Selbstorganisation.
Es besteht jedoch die Chance, dass sich dies nun ändert. Seit einiger Zeit wächst die Bereitschaft verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu Protesten: Demonstrationen gegen ACTA, das «Rentner-Städtchen», die Umzingelung des Parlaments durch Solidarnosc, die Wiederbelebung der städtischen Bewegungen gegen die Haushaltskürzungen und gegen die Brechung der Mieterrechte bis hin zur Demonstration der Krankenschwestern. Auch die dramatischen, wenn auch verlorenen, sporadischen Streiks in der Hütte Batory und bei Chung Hong zeigen das Ausmaß der gesellschaftlichen Empörung.
Die Regierung keine Möglichkeit mehr haben, ihre Investitionen allein aus den Mitteln der EU zu bestreiten, ein solchermaßen vorgetäuschtes des BIP wird, ohne weiter die Armut zu erhöhen, nicht mehr möglich sein. Die Regierung muss sich also Gedanken machen über die unbedingte Notwendigkeit, die sozialen Bedingungen in der Wirtschaft zu verbessern – dazu gehören Lohnerhöhungen und die Regulierung des Arbeitsmarkts.
Generalstreik?
In diesem Zusammenhang ist die Ankündigung eines Generalstreiks in Oberschlesien ein Zeichen, dass die Gewerkschaften sich nicht wieder in ein «Antikrisenpaket» einbinden lassen wollen, wofür wieder die Beschäftigten zahlen würden. Die Forderungen des Gesamtgewerkschaftlichen Streikkomitees nach Einschränkung der Schrottverträge für Beschäftigung, und die Abschaffung des Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ) sind grundlegende soziale Forderungen für das ganze Land. Der NFZ wird von Direktoren in den Regionen verwaltet und führt immer wieder dazu, dass den Kliniken Gelder fehlen. Die Gewerkschaften möchten statt dessen regionale Krankenkassen haben, die unter Selbstverwaltung stehen. Diese Aktion hätte eine historische Bedeutung – es wäre der erste Generalstreik in Polen nach 1989.
Bleibt die Frage, ob die Solidarnosc, die der SLD nahestehende ehemalige Staatsgewerkschaft OPZZ und das FZZ (der Dachverband einiger Branchen, u.a. der Krankenschwestern) in der Lage sein werden, zu den Forderungen zu stehen, die sie selbst aufgestellt haben. Die Erfahrungen zeigen, dass wir nicht dem Enthusiasmus verfallen sollten. So schwach, wie die größten Gewerkschaften sind, ist eine Niederlage viel wahrscheinlicher ist als der Erfolg. Wenn jedoch im Februar 2013 Oberschlesien standhaft bleibt, könnte dies die Situation verändern.
Der Artikel erschien zuerst in der polnischen Ausgabe von Le Monde Diplomatique, Nr.12, 2012 (Übersetzung: Norbert Kollenda).
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