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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2013

Die Hypothese eines kurdischen Fememords scheint wenig plausible
von Bernard Schmid

In der Nacht vom 9. zum 10.Januar dieses Jahres wurden in einer Bürowohnung (die auch das «Kurdische Informationszentrum» beherbergt) die Leichen dreier kurdischer Politikerinnen aufgefunden. Sie waren mit mehreren Schüssen aus nächster Nähe getötet worden.

Die drei Toten: Sakine Cans?z, 55, 1978 Mitbegründerin der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK); Fidan Dogan, geb. 1982 in Türkisch-Kurdistan, aufgewachsen in Ostfrankreich als Flüchtlingskind, diplomatische Vertreterin des Kurdistan-Nationalkongresses (KNK) in Frankreich und Verantwortliche des Informationszentrums; Leyla Saylemez, die meist in Deutschland, Halle, lebte und hier ein einmonatiges Praktikum absolvierte.
Der oder die Täter kannten wohl die drei Frauen bzw. konnten ihr Vertrauen erwecken – die Tür wies keine Spuren gewaltsamen Aufbrechens auf. Alle drei Frauen trugen ihre Mäntel und waren also entweder beim Hinausgehen oder soeben erst zur Tür hereingekommen, möglicherweise in Begleitung des Täters oder der Täter – die sich gut auskannten, denn das «Kurdistan-Informationszentrum» war durch keinerlei Hinweisschild gekennzeichnet.
Sakine Cans?z war am Vortag in Paris eingetroffen. Sie lebte zwar offiziell in Frankreich mit anerkanntem Flüchtlingsstatus (zwölf Jahre lang war sie in der Türkei inhaftiert und nachweislich gefoltert worden), hielt sich aber meist in Deutschland oder in Kurdistan auf. In Paris wollte sie ihren Aufenthaltstitel erneuern lassen. Der Mordanschlag galt wohl entweder ihr oder Fidan Dogan bzw. beiden. Falls Sakine Cans?z persönlich ins Visier genommen wurde, wussten die Täter, dass sie in Paris war.
Der politische Charakter der Mordtat war von Anfang an klar. Aus der Wohnung wurde nichts gestohlen, nicht einmal die Handtaschen der Frauen durchsucht.

Kurdischer Fememord…
Französische Presseorgane präsentierten mehrere Spuren, die mit den politischen Interessen des französischen Staates oder anderer Akteure zusammenhingen. Während proisraelische Webseiten vor allem das syrische und das iranische Regime verdächtigten – diese unterdrücken tatsächlich jeweils ihre «eigenen» Kurden, haben Kurden anderer Staaten bislang aber nicht ermordet –, sprachen die bürgerlichen Zeitungen anfänglich von der Möglichkeit eines blutig ausgetragenen Konflikts innerhalb der PKK. Diese Idee lancierte am Tag nach dem Mord der türkische Premierminister Recep Teyyip Erdogan.
Der konservative Figaro meinte, es müssten «Finanzierungsquellen und Schutzgeldströmen der PKK» ermittelt werden, da ein möglicher Friedensschluss zwischen dem türkischen Staat und der PKK einigen Fraktionen innerhalb der nationalen Befreiungsbewegung – solchen, die das Drogen- und Waffengeschäft zur illegalen Finanzierung der PKK kontrollieren – in die Quere käme.
Solch fragwürdige Praktiken mag es geben, die Haupteinnahmequelle der PKK ist jedoch die Solidarität der in Europa lebenden kurdischen Bevölkerung. Und obwohl die PKK im Inneren auch autoritäre Strukturen aufweist, die in den Jahren 1987 und 1988 zu Morden an politischen «Dissidenten» in Deutschland, u.a. in Hamburg, führten, ist wohl im vorliegenden Fall eine solche «Spur» falsch: Die drei Frauen waren keine politischen «Dissidentinnen» der PKK, zwei von ihnen waren sogar hochrangige Diplomatinnen der Organisation und mit Sakine Cans?z traf man direkt das Umfeld des seit 1999 inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan.
Obwohl diese «Spur» hochgradig unwahrscheinlich ist, kann ihre Verfolgung jedoch einigen Ermittlungsbehörden in den Kram passen, da in ihrer Optik die – seit 1994 in Frankreich wie in Deutschland verbotene – PKK als solche eine «Terrororganisation» ist.

…oder Angriff aus dem türkischen Schattenstaat?
Plausibler ist eine These, die in Bereiche des türkischen Staatsapparats und seine Schattenstrukturen führt, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass die Morde direkt von der türkischen Regierung beauftragt wurden, da dies ihrem aktuellen Kurs diametral widersprechen würde: Premierminister Erdogan, möchte sich eine «Lösung des Kurdenkonflikts» an sein Revers heften, weshalb die türkische Staatsspitze de facto grünes Licht für offene Verhandlungen mit der PKK gegeben hat. Vermittler ist dabei die «prokurdische», im Parlament vertretene (wenn auch Repressalien ausgesetzte) Partei für Frieden und Demokratie (BDP). Zwei ihrer Abgeordneten durften Anfang Januar den inhaftierten Abdullah Öcalan zu besuchen.
Doch dieser Kurs geht ultranationalistischen Fraktionen in den repressiven Organen des Staatsapparats viel zu weit, zudem gibt es Querverbindungen von Teilen dieses Staatsapparats zu Mafiaorganisationen, zu faschistischen oder paramilitärischen Vereinigungen und rechten Milizen. Auch die französische Presse, z.B. Libération, sprach offen vom Verdacht einer Mordaktion aus diesen Kreisen, zudem hält man auch die faschistischen «Grauen Wölfe» für mögliche Täter.
Mitte Januar nahm die französische Polizei zwei gebürtige Kurden fest und verhörte sie. Geboren 1974 und 1982, wohnen sie im Pariser Vorort La Courneuve und standen vormals den Mordopfern «nahe», einer war wohl der Fahrer einer der drei Frauen. Über die Plausibilität dieser, laut Polizei «ernsthaften Spur», ließ sich bei Redaktionsschluss noch nichts sagen.

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