von Bernard Schmid
Die Phase des vermeintlichen Stillstands der Revolution in Tunesien scheint vorüber: Die sozialen Kämpfe melden sich mit Wucht zurück.
Friedhofsruhe sieht anders aus: Am 1.Dezember 2012 berichtete die tunesische Tageszeitung La Presse, im Jahr 2012 hätten 11.282 Protestbewegungen im Land stattgefunden (2011: etwa 16.000). Darunter waren rund 1500 gewerkschaftlich organisierte und 4500 «wilde» Streiks.
Vor allem die Gewerkschaftsbewegung erscheint derzeit als bedeutendster Gegenspieler des Regierungslagers – ihr Dachverband UGTT zählt rund 750.000 Mitglieder, bei 10,5 Millionen Einwohnern eine starke Organisation. Die Islamisten als wichtigste Regierungspartei hingegen scheitern offensichtlich daran, soziale und ökonomische Verbesserungen herbeizuführen.
Die Entwicklung der Parteien
Seit der Kabinettsbildung am 24. Dezember 2011 regiert die an der türkischen AKP orientierte Partei En-Nahdha («Wiedergeburt «) in einer Drei-Parteien-Koalition. Ihre Koalitionspartner, der liberal-nationalistische «Kongress für die Republik» (CPR) und die klassisch sozialdemokratische Partei Ettakatol, wurden jedoch im Laufe der Monate zunehmend marginalisiert. Bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung vom 23.Oktober 2011 hatten beide Parteien jeweils rund 20% der Stimmen erhalten; auf En-Nahdha entfielen 35% der abgegebenen Stimmen und 41% der Parlamentssitze.
Die beiden Juniorpartner in der Regierung wurden aber in den letzten Monaten weitgehend zerrieben, Meinungsumfragen sehen sie bei nur noch 3–4%. Auch En-Nahdha verliert bei den Umfragen und würde nur noch rund 30% erhalten. Damit bleibt En-Nahdha eine der beiden stärksten politischen Kräfte, auch wenn sie Federn lässt.
Einen Aufstieg erlebt indes die im Juni 2012 gegründete Partei Nidaa Tounès («Aufruf Tunesiens» oder «Appell Tunesiens»), welche ebenfalls rund 30% Zuspruch hat. Diese Partei verhilft einerseits Leuten aus dem alten Regime wieder zu politischen Ämtern und spricht für einen Teil des Bürgertums, andererseits hat sie aber auch einen Gewerkschaftsflügel. Das Bündnis dieser unterschiedlichen Kräfte wird zusammengehalten von einer Position, die die Islamisten zum Hauptfeind erklärt und den «Kampf für die Rettung der modernen Errungenschaften Tunesiens» zur absoluten Priorität erklärt.
Unterdessen wächst eine dritte Kraft in den Umfragen, das explizit linke Bündnis Front populaire («Volksfront»). Es ist ein Zusammenschluss von Ex-Maoisten unterschiedlicher Couleur, einer trotzkistischen Organisation (LGO) und linken Gewerkschaftern. Der tunesische Ableger von ATTAC sowie die «Union der Arbeitslosen mit Hochschulabschluss» sind als Organisation Mitglieder der «Volksfront», die man mit SYRIZA in Griechenland vergleichen kann. In den Umfragen nähert sie sich der 10%-Grenze.
Die Ligen
Zudem machen seit Oktober 2012 die «Ligen zur Verteidigung der Revolution» (LPR) stark von sich reden. So nennen sich neu gebildete Vereinigungen, die zumindest Teilen der Basis von En-Nahdha nahe stehen und von Sympathisanten oder Mitgliedern der Partei gebildet warden.
Dabei handelt es sich im Kern um Überreste ehemaliger lokaler Selbstverwaltungsorgane – etwa Stadtteilkomitees zur Verhinderung der Plünderung von Häusern, als die Polizei während des Umsturzes im Januar 2011 auf dem Rückzug war; seit etwa der Jahresmitte 2011 haben sie ihre bisherigen Mitglieder verloren. Die Reste dieser funktionslos gewordenen Organe zur Aufrechterhaltung der Sicherheit haben die Islamisten sozusagen eingesammelt und mit eigenen Leuten aufgefüllt. Nunmehr funktionieren die Ligen auch als Kampagnenorgane.
Ein Teil der untereinander heftig zerstrittenen Anhänger der Regierungsislamisten reagiert darauf, dass die Politik des Kabinetts festgefahren ist und zu immer mehr sozialer Unzufriedenheit führt. Die Ligen entfachen nun heftige Kampagnen zur «Säuberung» von Korrupten (Nutznießer der strukturellen Korruption unter dem alten Regime gibt es tatsächlich genug), sie richten sich gegen Parteigänger der Ben-Ali-Diktatur, aber auch gegen andere Verkörperungen von «Unmoral». Dazu gehören in den Augen vieler von ihnen auch Gewerkschafter, bilden die Mitgliedsgewerkschaften der UGTT doch im Augenblick ihren zähesten und stärksten Gegenspieler.
Islamisten greifen Gewerkschaften an
Gerade mit diesem Gegenspieler verbrannten sie sich jedoch beinahe die Finger. Am 4.Dezember 2012 organisierten die Ligen einen Auflauf «gegen die Korrupten» vor dem zentralen Sitz der UGTT in Tunis, wo zeitgleich eine Gedenkveranstaltung für den Gründer des gewerkschaftlichen Dachverbands im Jahr 1946, Farhat Hached, stattfand. Das Andenken an Farhat Hached, der im Dezember 1952 vom Geheimdienst SDECE der Kolonialmacht Frankreich ermordet wurde, wird in Tunesien parteiübergreifend gewahrt.
Auf den feindseligen Auflauf vor ihren Toren reagierte die UGTT mit dem Versuch, die Störer von ihren Ordnern abdrängen zu lassen, wofür diese ihre Knüppel zückten und auf eine bewaffnete Gegenseite stießen. Bei der darauffolgenden Massenschlägerei wurden zehn Personen, überwiegend Gewerkschafter, teils erheblich verletzt.
Dies löste nicht nur heftige Reaktionen in der den Islamisten mehrheitlich feindlich gegenüberstehenden Presse und in der tunesischen Gesellschaft aus, sondern hätte auch beinahe zu einem landesweiten Generalstreik geführt, den die UGTT am 13.Dezember 2012 als Reaktion auf die Übergriffe organisieren wollte. 48 Stunden vorher verschob sie ihn jedoch, weil sich in ihren Reihen Stimmen mehrten, die meinten, die Sache sei nicht genügend vorbereitet, und im Falle eines ungünstigen Verlaufs der Aktion schieße man ein Eigentor.
Da parallel zu den Beratungen im UGTT-Vorstand Verhandlungen mit der Regierung stattfanden, die die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses sowie Maßnahmen zur Auflösung der Ligen versprechen musste, verschob die UGTT die Entscheidung über eventuelle Streikmaßnahmen um mehrere Wochen. Dabei ist die UGTT zuversichtlich, denn die Regierung würde die Angelegenheit zwar gern im Untersuchungsausschuss stillschweigend beerdigen, das wird ihr jedoch nicht gelingen, denn die UGTT hat zahlreiche Filmaufnahmen vom Geschehen und wird die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Bislang konnte die Regierung die ganz große Konfrontation mit den Gewerkschaften vermeiden und sie dürfte auch diesmal Vorsicht walten lassen.
Regionale Proteste und Streiks
Unterdessen kam es den ganzen Herbst 2012 hindurch auf regionaler Ebene zu mehreren massiven sozialen Protest- und Streikbewegungen. In der südtunesischen Küstenstadt Gabès wurde deshalb im Oktober vorübergehend der Ausnahmezustand verhängt.
In Siliana, rund 125 km südlich von Tunis im Landesinneren, kam es ab dem 27.November zur Eskalation. Ein massiver Generalstreik wurde zunächst mit dem Einsatz von Schrotmunition – die in den USA hergestellten Munitionsbestände waren der tunesischen Regierung frisch vom Golfstaat Qatar geschenkt worden – beantwortet, was 300 Verletzte nach sich zog und die Wut noch größer machte. Die Regierung musste schließlich ihren Gouverneur in Siliana, der erst im April 2012 dank seines Parteibuchs von En-Nahdha eingesetzt worden war, feuern und Maßnahmen für regionale Strukturentwicklung und soziale Verbesserungen ankündigen – die bislang freilich noch ihrer Umsetzung harren.
Am 2.Dezember 2012 wurde der Generalstreik in Siliana «vorläufig eingestellt». Unmittelbar im Anschluss daran fanden in fünf tunesischen Provinzen (von 26) regionale Generalstreiks, aus Solidarität mit Siliana und zur Warnung, statt.
Am 16.Januar 2013 flammten erneut heftige soziale Unruhen auf regionaler Ebene auf. In der Stadt El-Kef, nahe der tunesisch-algerischen Grenze, hatten bereits am 8.Januar junge «Arbeitslose mit Hochschulabschluss» Verkehrswege blockiert, um gegen ihre soziale Situation zu protestieren. Daraufhin beschloss die örtliche UGTT, für den 16.Januar zum Generalstreik aufzurufen, um so eine Verbesserung der sozialen Situation und den Rücktritt des Gouverneurs zu fordern. In diesem Zusammenhang kam es zu einer Großdemonstration, bei der junge Leute Parteibüros von El-Nahdha attackierten und eine Polizeiwache mit Molotowcocktails bewarfen. Die sozialen Unruhen hielten bis Redaktionsschluss an.
Am 19.Januar demonstrierten in Gafsa – im tunesischen Phosphatbergbaubecken, wo es, noch unter der alten Diktatur, zwischen Januar und Juli 2008 massive soziale Unruhen gegeben hatte – viele Menschen gegen die nach wie vor intransparenten Praktiken bei der Vergabe von Arbeitsplätzen im Phosphatbergbau (der von der öffentlichen Hand kontrolliert wird), und gegen die Einsetzung eines Parteifreunds der regierenden En-Nahdha an der Spitze der Bergbaugesellschaft. Mit weiteren sozialen Protesten ist landesweit zu rechnen.
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