Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2013

Sahra Wagenknechts Verkennung des Privateigentums im modernen Kapitalismus
von Sebastian Gerhardt

Sahra Wagenknecht ist nicht irgendjemand in der deutschen Politik. Der Einfluss der stellvertretenden Parteivorsitzenden der LINKEN und 1.Stellvertretenden Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag geht – anders als bei manchen anderen deutschen Politikern – deutlich über ihre offiziellen Positionen hinaus. Sie publiziert regelmäßig und hat gerade im letzten Jahr für ihr Buch Freiheit statt Kapitalismus von sehr verschiedenen Seiten viel Lob erhalten. Von Georg Fülberth («Nichts Falsches und kaum Neues, aber viel Vernünftiges», jW), über Peter Gauweiler, die Frankfurter Allgemeine bis hin zu Beiträgen in der linken Presse zieht sich eine kleine Volksfront durch das deutsche Feuilleton, die im bunten Spektrum der Kläger gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus in Karlsruhe wiederzufinden war.

Gauweilers Lob
Peter Gauweilers Begeisterung ist gut begründet. Ihm gefällt an Wagenknechts neuem Buch die Wiederaufnahme der altliberalen Kritik am «gesichtslosen» Großkapital, das Lob des Unternehmers gegenüber dem bloßen Kapitalisten, das Lob des Marktes und der alten Bundesrepublik für die «soziale Marktwirtschaft» der Nachkriegsära. Er hat erkannt, dass die Berufung Sahra Wagenknechts auf Ludwig Erhard, den Architekten der Währungsreform von 1948, mehr ist als ein mehr oder weniger geschickter Marketingtrick. Tatsächlich wiederholt sie an verschiedenen Stellen ihres Buches ein Glaubensbekenntnis, das jedem Unternehmenspatriarchen aus der Seele gesprochen ist: «Persönliche Haftung», so Frau Wagenknecht, ist «das Grundprinzip einer funktionierenden Wirtschaft». Arbeiten kann schließlich jeder, aber wer trägt die Verantwortung?
Hinter Sahra Wagenknechts Berufung auf die Ordoliberalen steckt die gutbürgerliche Theorie vom Privateigentum als dem Ergebnis persönlicher Leistung, gegen das als solches nichts einzuwenden sei. Im Gegenteil: «Persönliches Eigentum sichert kurze Entscheidungswege und klare Machtverhältnisse.» Ihre Kritik setzt überall da ein, wo der Zusammenhang zwischen persönlicher Leistung und Eigentum für sie nicht mehr gegeben ist: wenn Eigentum auf Erbschaft beruht oder wirtschaftlicher Erfolg auf Macht und Monopolen. Und weil sie weiß, dass der größte Teil der Arbeit heute in Unternehmen geleistet wird, die etwas größer sind als Start-Ups, will sie das Eigentum in Großbetrieben durch Wirtschaftsdemokratie gebändigt und öffentlich reguliert sehen. Schließlich soll auf dem Wege des Erbrechts die «Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner» verhindert werden. Bei Vermögenswerten über eine Million Euro hinaus soll die Erbschaftsteuer 100% betragen.
Solche Konsequenz gefällt Peter Gauweiler nicht mehr: «Damit wären alle deutschen Familienunternehmen – die Hälfte aller börsennotierten Unternehmen in Deutschland sind Familienunternehmen – innerhalb einer Generation enteignet.»

Schein und Sein
Die Frage, warum ein Chef zu seinen Lebzeiten «die Früchte fremder Arbeit auf sich übertragen» darf, wird von Sahra Wagenknecht aber nicht aufgeworfen. Es wäre die Frage danach, wo heute der volkswirtschaftliche «Kuchen» herkommt, der dann systematisch ungleich verteilt wird. Es wäre die Frage nach dem Charakter moderner Ausbeutung, auf die Marx soviel Mühe verwendet hat. Seine Antwort interessiert in Wagenknechts Buch nicht: Arbeiten kann schließlich jeder. Dass «Wirtschaft» nicht nur eine Sache von Kaufen und Verkaufen, von Bossen und Börsenkursen ist, sondern in der alltäglichen Arbeit besteht – das versteht auch sie nur als moralischen Anspruch auf Anerkennung, nicht als erklärenden Zugang zur Kritik der herrschenden Zustände.
Das Ausblenden der Frage nach der gewöhnlichen Ausbeutung könnte damit zusammenhängen, dass Frau Wagenknecht ausgesprochen albernen Robinsonaden von der Herkunft technischer und ökonomischer Innovationen aufsitzt. Die wenigsten wissenschaftlichen Innovationen sind wie die algebraische Gruppentheorie einem genialen Menschen allein zu verdanken – diese Leistung Evariste Galois’ wäre ohne die Bemühungen seiner Umgebung um sein Andenken und ohne die Übersetzungsarbeit Joseph Liouvilles wohl fruchtlos geblieben.
Die Innovationsforschung weiß einiges über die Entwicklung von technologischen Neuerungen zu berichten. Dazu gehört, dass viele Patente und Texte, über denen nur ein Name steht, mehr als nur einen Urheber oder Urheberin haben. Im Falle geklärter Machtverhältnisse ist zwar auch geklärt, welcher Name oben steht: Den Chefs gehört die Leistung ihrer Firma. Aber sie gehört ihnen nicht deshalb, weil sie besonders viel dazu beigetragen haben. Sondern weil sie die Chefs sind. Die Rechtfertigung des Profits durch Innovationen ist nicht weniger Schein als die Rechtfertigung des Privateigentums durch eigene Leistung. Wie die Innovationsforschung auch mitzuteilen weiß, sterben die genialen Erfinder in der Regel in bestenfalls bescheidenen Verhältnissen. Das Geld haben regelmäßig die Leute gemacht, die sich die Rechte an den Erfindungen rechtzeitig gesichert haben: So funktioniert das Privateigentum im Innovationsprozess.
Sicher kann man einige Elemente der bürgerlichen Legitimation des Privateigentums zur moralischen Denunziation der bestehenden Verhältnisse verwenden. Historisch hat es das immer wieder gegeben. Wie erfolgreich diese Strategie sein kann, zeigt das Beispiel der Agitation Ferdinand Lassalles (mit dessen marktzentrierter Ausbeutungstheorie die Argumentation Sahra Wagenknechts viele Ähnlichkeiten hat). Aber wie jeder Moralismus hat auch eine solche Denunziation nur eine sichere Folge: nach der Empörung folgt die Passivität.

Banker gegen Realwirtschaft?
Sahra Wagenknecht sieht den ersten großen Konflikt der heutigen Wirtschaft zwischen ein paar Bankern und allen anderen, auch allen anderen Unternehmern. Die privaten Banken trügen nichts mehr zur Finanzierung von Investitionen und Innovationen bei, seien nur auf den eigenen Vorteil bedacht und hätten sich eine eigene Geldmaschine zugelegt, mit der sie nun die Realwirtschaft bedrängen.
Selbstverständlich gibt es neben Übereinstimmungen immer auch Interessenkonflikte zwischen Gläubigern und Schuldnern, insbesondere zwischen Banken und ihren Kreditnehmern. Doch eine Bank hat nicht nur Schuldner, sondern auch Gläubiger: Auf der Passivseite ihrer Bilanz verzeichnet sie die Herkunft der Mittel, mit denen sie ihre Geschäfte betreibt. Die Banken sind selbst Schuldner. Neben dem Eigenkapital, mit dem die Eigentümer (Aktionäre oder andere Gesellschafter) am Unternehmen beteiligt sind, gibt es den großen Block von Anlegern verschiedenster Art: Von den vielen Kleinsparern der Sparkasse, die wenig auf ihr Konto tragen können, über den Geldvermögensbesitzer, der persönlich oder über beauftragte Vermögensverwalter sein Portfolio managt, bis zu den großen und kleinen Unternehmen, die über die Banken ihre Geldgeschäfte abwickeln. Gerade die nichtfinanziellen Unternehmen und ihre Eigentümer haben ein großes Interesse daran, dass ihre Finanzanlagen sich rentieren, statt sich in Luft auszulösen. Mag auch mancher Kapitalist als Kreditnehmer mit der Geschäftspraxis seiner Bank unzufrieden sein – als Eigentümer ist er prinzipiell mit den Bankern überhaupt solidarisch.
Dass Sahra Wagenknecht diese Solidarität mit den Bankern nicht sehen kann, liegt daran, dass sie eine ebenso verbreitete wie falsche Theorie über das moderne Geldwesen übernimmt: Moderne Banken, so diese Theorie, brauchten gar keine Mittel mehr, um Kredite zu vergeben, sondern schafften diese selbst. Sie schreibt:
«Wie entsteht heute Geld? Im Grunde aus dem Nichts, einfach dadurch, dass eine Bank einem Kunden Kredit gewährt ... Dieser Kredit steht auf der Aktivseite der Bilanz einer Bank. Auf der Passivseite stehen unter anderem die Spareinlagen. In dem Augenblick, in dem die Bank einen Kredit vergibt, schafft sie zeitgleich eine Einlage auf der Passivseite, nämlich auf dem Girokonto des Kreditnehmers. Damit ist die Bilanz wieder ausgeglichen. Die Bank braucht also keine zusätzlichen Ersparnisse zur Kreditvergabe, sondern durch die Kreditvergabe schafft sie ‹Ersparnis›.»
Im nächsten Satz schränkt sie diese Theorie ein: «Zumindest kurzfristig» steht dort. Denn der Kreditkunde hat sich verschuldet, um zu bezahlen. Er macht, wann er will, Überweisungen von seinem Konto oder lässt sich Geld auszahlen – und dann muss die Bank die entsprechenden Mittel haben. Deshalb kann sich keine Bank das Geschäftsmodell leisten, das Sahra Wagenknecht hier in gut postkeynesianischer Tradition skizziert hat. Sie wäre schnell, ganz schnell Pleite und würden bestenfalls von der Konkurrenz übernommen. Tatsächlich kann auch eine Bank nur verleihen, was sie hat.

Echter und falscher Wettbewerb
Innerhalb der Realwirtschaft sieht Sahra Wagenknecht ein zweites Konfliktfeld: wieder zwischen einer Mehrheit und einer kleinen asozialen Minderheit. Sie schreibt: «99,8 Prozent aller Unternehmen in Europa sind kleine und mittlere, die in der Regel andere Sorgen haben, als Konkurrenten in Südostasien aufzukaufen, auf den Finanzmärkten zu zocken oder die Eigentümer mit kreditfinanzierten Ausschüttungen zu beglücken ... Selbst eine Reihe größerer Unternehmen wirtschaftet anders als hier beschrieben.»
Unter letzteren macht sie mit dem Unternehmensberater Herbert Simon die sog. «Hidden Champions» aus, die ihr mit hohen Investitionen, vielen Innovationen, Produktqualität und Mitarbeiterbindung sehr am Herzen liegen. Kaum einer dieser «geheimen Weltmarktführer» fällt unter die EU-Definition der «kleinen oder mittleren Unternehmen». Fast alle haben mehr als 250, einige sogar tausende von Mitarbeitern. Und die Jahresumsatzzahlen liegen mehrheitlich jenseits der Grenzen von 50 Millionen Euro. Weltweit erfolgreiche moderne Produktion oder Dienstleistung findet nicht im Kleingewerbe statt. Und in den kleinen und mittleren Unternehmen wird nicht immer besser mit den Beschäftigten umgegangen.
Trotzdem gibt sich Sahra Wagenknecht viel Mühe, zwischen größeren und kleineren Kapitalisten eine Grenze zu ziehen: die Grenze zwischen zulässigem wirtschaftlichen Erwerbsstreben und unzulässiger wirtschaftlicher Macht. Sie will die Idee verteidigen, dass «echter» wirtschaftlicher Wettbewerb eigentlich eine tolle Sache wäre, wenn nur keine wirtschaftliche Macht daraus entstünde, die die Gleichheit der Marktteilnehmer beseitigt.
Die Konkurrenz der Marktwirtschaft ist jedoch kein Wettbewerb, wo, je nach Trainingsfleiß und Tagesform, mal der eine und mal die andere gewinnen kann. Denn die Ergebnisse der Konkurrenz, die wirtschaftlichen Gewinne, gehören den Gewinnern. Weshalb die schlichte marktwirtschaftliche Konkurrenz aus sich heraus die Polarisierung unter den Wirtschaftssubjekten verschärft. Das Gegenbild zu den von Sahra Wagenknecht gelobten investitionsstarken und innovationsfreudigen Unternehmen sind nicht die vermeintlich trägen Großkonzerne, sondern die Unternehmen, die mitsamt ihren Beschäftigten von der hochproduktiven Konkurrenz, etwa den tollen «Hidden Champions» vom Markt gefegt werden.
Sicher kommt es vor, dass schwächere Unternehmen sich über die starken beschweren. Regelmäßig etwa murren bei Tarifverhandlungen in der deutschen Metallindustrie kleine und mittlere Unternehmen über allzu große Zugeständnisse der Großen der Branche an die Gewerkschaften: «Die können das ja zahlen, aber wir?» Und sie kommen auch auf die Idee, sich mit ihrer Belegschaft gegen die Großen zu verbünden, etwa wenn zur Standortsicherung mit den Beschäftigten Lohnverzicht verabredet wird, um mit den Großen mithalten zu können. Ihre eigene Herrschaft im Betrieb stellen die Kleinunternehmer deswegen aber nicht in Frage. Im Gegenteil. Bis auf ein paar Verräter an ihrer Klasse fallen auch die kleinen und mittleren Unternehmer als Verbündete auf dem Weg zu einem neuen Sozialismus aus.
Ausbeutung ist nicht das Gegenteil von freiem Wettbewerb, sondern seine Grundlage. Ohne Warenform der Arbeitskraft keine allgemeine Warenproduktion. Produktion für den Profit statt für den Konsum ist nicht ein Fehler des Systems, sondern die Regel der kapitalistischen Akkumulation, die das Klassenverhältnis von Eigentümern und Nichteigentümern der Produktionsmittel sicherstellt. Die Frage ist nicht, ob die Wirtschaft für «die Gesellschaft» da ist. Das ist sie immer. Die Frage ist, welche Bedürfnisse der Menschen in dieser Gesellschaft Eingang in die Zweckbestimmung der Produktion finden. Um an dieser Stelle etwas zu ändern braucht es mehr als moralische Empörung. Ohne realistische Theorie keine realistische Praxis.

Sebastian Gerhardt unterhält einen Blog: http://planwirtschaft.wordpress.com

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