von Helmut Born
Bläst der Einzelhandelsverband jetzt zum Angriff auf alle tariflichen Standards?
Den rund 2,8 Millionen Beschäftigten im deutschen Einzelhandel könnte eine heftige Tarifrunde bevorstehen. Über zehn Jahre lang haben Ver.di und der Handelsverband Deutschland (HDE) über eine Reform der Lohn- und Gehaltstarifverträge verhandelt. Nach heftiger interner Kritik, vor allem aus Baden-Württemberg, hat sich die Gewerkschaft in den vergangenen Wochen von dem Projekt distanziert. Offensichtlich sehr zum Unwillen des Einzelhandelsverbands. Der reagierte verstimmt und kündigte am 31.Januar sämtliche Tarifverträge.
Dass der Tarifvertrag reformbedürftig ist, wird von niemanden bestritten. In den Tarifverträgen werden noch Berufsbilder aufgeführt wie Kaffeebeleser (Bohnensortierer), Fahrstuhlführer oder Pelznäherin, die es heute im Einzelhandel gar nicht mehr gibt.
Der HDE verband mit der Überarbeitung das Ziel, die Tarifverträge für Unternehmen attraktiver zu machen – sprich: die Löhne nach unten anzugleichen. Dazu sollte eine Analytische Arbeitsplatzbewertung eingeführt werden, die Löhne nicht mehr nach der Ausbildung, sondern nach der jeweiligen «Leistung» am Arbeitsplatz festlegt. Nur so, behauptet der HDE, könne der zurückgehenden Tarifbindung entgegengewirkt werden, mit der der Einzelhandel seit Jahren zu kämpfen hat. Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) arbeiten im Westen lediglich 60% der Beschäftigten in Betrieben, die formal tarifgebunden sind, im Osten sind es nur 40%.
Schon heute setzen große Unternehmen wie Rossmann, Rewe, Real oder Kaufland Leiharbeitskräfte ein. Zu Löhnen, die deutlich unter dem Einzelhandelstarifvertrag liegen, füllen sie Regale auf oder bedienen bei Spätöffnungen die Kasse – ganz abgesehen von Unternehmen wie KIK, Edeka, C&A, P&C oder Breuninger, die sich in wesentlichen Teilen nicht an Tarifverträge halten. In betriebsratsfreien Bereichen würden zudem die Bosse alleine darüber entscheiden, wer welcher Lohngruppe zuzuordnen ist.
Nach Auffassung von Ver.di handelte es sich beim Vorstoß des HDE um den Versuch, wesentliche Bestandteile des Manteltarifvertrags zu kippen. Die Gewerkschaft befürchtete, dass zentrale Schutzmechanismen wie Zuschläge für Nachtarbeit und Mehrarbeit, Urlaubstage oder Weihnachts- und Urlaubsgeld dann neu verhandelt werden müssten.
Ver.di hat deshalb das Ansinnen, eine Analytische Arbeitsplatzbewertung einzuführen, abgelehnt und die Verhandlungen über die Tarifstrukturreform abgebrochen. Daraufhin hat der HDE alle Tariferträge im Einzelhandel gekündigt. Er begründete die Kündigung mit der Komplexität einer Tarifstrukturreform, die nicht auf die Lohn- und Gehaltsfragen beschränkt werden könne. Statt der geplanten reinen Lohnrunde könnten nun die im Frühjahr beginnenden Tarifverhandlungen zu einer Auseinandersetzung um die gesamte Tarifstruktur der Branche werden. Ver.di jedenfalls wertet den Schritt, alle Tarifverträge zu kündigen, als Angriff auf die Einkommen der Beschäftigten und auf andere wichtige tarifliche Standards. Ob der HDE in der anstehenden Tarifrunde Einzelhandel zum Generalangriff auf alle tariflichen Standards blasen wird, wird sich zu Beginn der Verhandlungen zeigen.
Eine Tarifreform darf nur zugunsten der Beschäftigten beschlossen werden. Dass dies nur im Konflikt mit den Bossen durchsetzbar sein wird, dürfte klar sein. Für aktive und kämpferische Gewerkschafter kommt es jetzt darauf an, klare Positionen zu vertreten. Dabei wird die neue Führung des Ver.di-Fachbereichs Handel zu beweisen haben, dass mit ihr keine Verschlechterungen zu machen sind. Die kommende Tarifrunde Einzelhandel dürfte wieder sehr spannend werden.
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