von Alan Maass
Steven Spielbergs Lincoln handelt nur von einer – allerdings entscheidenden – Episode eines jahrelangen Kampfes: von der Abstimmung im Repräsentantenhaus während der letzten Monate des Amerikanischen Bürgerkriegs über den 13.Zusatzartikel zur Verfassung, der die Sklaverei für illegal erklärte. Und er handelt hauptsächlich von einem Protagonisten in diesem Kampf: Abraham Lincoln, eine der wichtigsten Persönlichkeiten im Kampf gegen die Sklaverei. Seine Geschichte ist die eines politisch Moderaten, der durch die Ereignisse eine Wandlung durchmachte, dem es gelang, sich auf die Höhe der historischen Aufgaben zu erheben, als andere in seiner Umgebung dies nicht taten, und der auf diese Weise zur Sache der Freiheit einen wichtigen Beitrag leistete.
Bei Lincoln geht es um die Sklaverei, und das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn es um den Amerikanischen Bürgerkrieg geht, denn eine ganze Industrie ist in der Popkultur und im akademischen Bereich damit beschäftigt, die Sklaverei als Hauptfaktor des Bürgerkriegs zu verdrängen und ihn als tragischen Konflikt, in dem «Bruder gegen Bruder» steht, darzustellen. Spielberg und Kushner aber haben einen Film gemacht, in dem die Sklaverei die einzige politische Frage von Bedeutung ist – eine klare Anerkennung dessen, was am Bürgerkrieg revolutionär war.
Lincoln ringt mit der Frage: Wird das Ende des Krieges das Ende der Sklaverei bedeuten? Lincoln war Anwalt und kein politischer Theoretiker, daher sah er die Sklavenfrage durch eine legalistische Brille. 1862 erließ er die Emanzipationsproklamation, die alle Sklaven in den Südstaaten mit dem Beginn des Jahres 1863 als «für immer frei» erklärte. Dies war ein erstes Zeichen für Lincolns Verwandlung von einem Moderaten, der bereit war Kompromisse einzugehen, in einen Kriegsherrn, der zu revolutionären Maßnahmen griff. Von diesem Moment an wurde die Unionsarmee (die Armee der Nordstaaten), eine Befreiungsarmee, die die Sklavenemanzipation überall im Süden durchsetzen konnte – was Lincoln vollständig begriff. Die Revolte der Sklaven, die von den Plantagen flohen, wurde von den Waffen der Union gestützt.
Aber die Proklamation war eindeutig eine Maßnahme für die Kriegführung – und in einer frühen Szene in Lincoln stellt sich der Präsident die Szenarien vor, wie ein Gericht sie nach dem Krieg als verfassungswidrig beurteilen könnte. Wenn somit die Proklamation von 1862 nicht garantieren konnte, dass die ehemaligen Sklaven «für immer frei» sind, was war zu tun? Lincolns Antwort: einen 13.Zusatzartikel zur Verfassung verabschieden, der dies garantiert.
Dabei gab es eine Komplikation: Anfang 1865 stand die militärische Niederlage des Südens kurz bevor. Eine Mehrheit der Abgeordneten im Norden würde wohl die Verfassungsänderung unterstützen, solange der Süden Krieg führte, um den Feind seiner Hauptquelle an Arbeitskräften zu berauben – doch die Konservativeren unter ihnen würden eine radikale Aktion scheuen, wenn der Krieg zu Ende wäre. Lincolns Schlussfolgerung war, die Verabschiedung des Zusatzartikels durchzusetzen, bevor er ein Ende des Krieges zulassen konnte.
Nachdem er entschieden hat, was zu tun ist, benutzt Lincoln jedes ihm zur Verfügung stehende Mittel, um sein Ziel zu erreichen – darunter die Bestechung von Abgeordneten der Demokratischen Partei (das ist damals die Partei der sklavenhaltenden Großgrundbesitzer der Südstaaten). Um die Stimmen des konservativen Flügels seiner eigenen Partei (der Republikaner) zu gewinnen, erlaubt er dessen Anführer Preston Blair, geheime Friedensverhandlungen mit den Konföderierten aufzunehmen – die Bedingung für ein einheitliches Votum der Republikaner für den Zusatzartikel –, obwohl Lincoln weiß, dass er einen Friedensschluss nicht vor der Abstimmung zulassen darf.
Die radikalen Republikaner bittet er, ihre Rhetorik einzuschränken, um die Konservativen nicht zu verschrecken. Die Radikalen misstrauen Lincolns Motiven, aber ihr Anführer Thaddeus Stevens erkennt, dass Lincoln den Punkt erreicht hat, von dem es kein Zurück mehr gibt: «Abraham Lincoln hat uns aufgefordert, mit ihm zusammenzuarbeiten, um der Sklaverei den Todesstoß zu versetzen.»
An jedem kritischem Augenblick in der Geschichte des Bürgerkriegs stand Lincoln für die Weigerung, Kompromisse einzugehen – im Gegensatz zu vielen anderen in seiner Partei. Lincoln verweigerte sich früheren Forderungen nach Verhandlungen mit dem Süden, selbst als er dadurch riskierte, bei Wahlen die Macht an die Demokraten zu verlieren. Nachdem er den Beschluss zur Sklavenemanzipation oder zur Bildung schwarzer Regimenter in der Armee gefasst hatte, widersetzte sich Lincoln jedem Vorschlag, diese zu begrenzen.
In diesem Sinne bestätigt Spielbergs Lincoln die Beobachtungen eines radikalen, in England lebenden Journalisten, der einsichtige Artikel über den Amerikanischen Bürgerkrieg schrieb: Karl Marx erkannte die gewaltige Bedeutung des Kampfes gegen die Sklaverei, aber auch die besondere Rolle, die Lincoln dabei spielte:
«Keine Initiative, keine idealistische Schwungkraft, kein Kothurn, keine historische Draperie. Er tut das Bedeutendste immer in der möglichst unbedeutendsten Form … Und dennoch wird Lincoln in der Geschichte der Vereinigten Staaten und der Menschheit unmittelbar Platz nehmen nach Washington! Ist es denn heutzutage, wo das Unbedeutende diesseits des Atlantischen Ozeans sich melodramatisch aufspreizt, so ganz ohne Bedeutung, dass in der neuen Welt das Bedeutende im Alltagsrocke einherschreitet?» [MEW 15, S.552f.]
Lincoln war der politische Führer des Kapitalismus im Norden zu einer Zeit, als dieser sich im Kampf um die Vorherrschaft in den USA gegen die Sklavenwirtschaft im Süden befand. Die Interessen des Kapitalismus in den USA fielen – wie sich zeigen sollte, wahrscheinlich zum letzten Mal in der Weltgeschichte – mit einer massiven Ausdehnung von Demokratie und Freiheit zusammen.
Um den Norden zum Sieg zu führen, war Lincoln gezwungen, den Sklaven die Freiheit zu schenken. Lincoln spielte keinerlei Rolle bei der Einleitung dieses Kampfes und nur eine geringe Rolle, um diesen Kampf zu einem offenen Konflikt zu entwickeln. Aber er war ein bedeutender Akteur bei seinem Ende, der eine besondere Rolle zu spielen hatte – und diese Rolle wird von Spielbergs Film brillant eingefangen.
Das bedeutet nicht, Lincolns Beschränkungen oder rückschrittliche Haltungen zu ignorieren. Persönlich fand Lincoln die Sklaverei abstoßend, doch er vertrat auch rassistische Vorstellungen. Zum Beispiel stritt er 1858, zwei Jahre vor seiner Wahl zum Präsidenten, in einer Debatte ab, «die soziale und politische Gleichheit der weißen und der schwarzen Rasse» zu vertreten: «Ich bin so sehr wie jeder andere dafür, dass die höhere Stellung der weißen Rasse zukommt.»
Es gibt Anzeichen dafür, dass sich seine Vorstellungen durch seine Beteiligung am Kampf geändert haben, der Film deutet dies an, ohne Lincolns Haltung zu beschönigen: Als Lincoln am Ende des Films die Gelegenheit hat, seine Auffassungen über Gleichheit und über das zukünftige Verhältnis von Weißen und Schwarzen auszudrücken, ist seine Antwort unbeholfen und verlegen: «Ich nehme an, wir werden uns aneinander gewöhnen.»
Aber Lincolns politische Wandlung ist eindeutig. In seiner ersten Amtseinführungsrede sagt Lincoln 1861 noch, dass er nicht vorhabe, «in die Institution der Sklaverei einzugreifen». In seiner zweiten Antrittsrede erklärt er 1865 in einer auch am Ende des Films wiedergegebenen Passage: «Wir hoffen zuversichtlich und beten zu Gott, dass die furchtbare Last des Krieges schnell zu Ende sein möge. Doch Gott lenkt, und wenn er will, dass diese Auseinandersetzung sich so lange hinzieht, bis alle unrechtmäßigen Schätze, die sich durch 250 Jahre Sklavenhaltung angesammelt haben, versenkt werden und jede blutende Wunde, die eine Peitsche aufgerissen hat, mit weiterem Blut durch das Schwert gesühnt wird, dann mag auch heute noch gelten, was vor 3000 Jahren der Prophet gesagt hat: Die Wege des Herrn sind gerecht.»
Lincoln hatte die Möglichkeit, einen der bislang blutigsten Kriege zu beenden und dabei die Aussichten für die gerechte Sache im Ungewissen zu lassen. Lincoln entschloss sich stattdessen, den Krieg weiterzuführen, um die gerechte Sache weiterzuverfolgen.
Gekürzt nach: http://socialistworker.org/2012/11/29/the-great-uncompromiser
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