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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2013
In Ägypten beginnt eine neue Phase der Revolution
von Jacques Chastaing

Nichts ist beendet oder geregelt in Ägypten. Die Macht der Muslimbrüder bleibt zerbrechlich, ihr Einfluss in der Bevölkerung schwindet – dank einer Arbeiter- und Volksbewegung, die nicht aufhört zu kämpfen und unleugbar einen Prozess der Radikalisierung durchläuft.

Zwei Jahre nach der Revolution vom Januar 2011 haben die Ereignisse von Ende November und Anfang Dezember 2012 gezeigt, dass die Macht Mursis und der Muslimbruderschaft von einem großen Teil des Justizapparats in Frage gestellt wird, aber auch und vor allem von der Straße, die mit massiven Demonstrationen seinen Sturz gefordert hat. In Städten wie auf dem Land wurden Büros der «Freiheits- und Gerechtigkeitspartei» der Muslimbrüder geplündert oder in Brand gesteckt und ihre bekanntesten Vertreter aus den Moscheen gejagt.

Der bestimmende Faktor hinter all diesen Ereignissen ist der Klassenkampf von unten. Die Behörden haben allein in den Monaten September und Oktober 2012 2000 Streiks registriert. In den zwei Jahren der Revolution gab es soviel Streiks wie noch nie in der Geschichte Ägyptens, die Streikwelle von Herbst/Winter 2012 ist dabei eine der markantesten. Dabei werden weiterhin zahlreiche Gewerkschafter zu Gefängnisstrafen verurteilt, Geldbußen können bis zu 50.000 Euro betragen – für die vielen Beschäftigten, die nur 50 Euro im Monat verdienen, bedeutet das 100 Jahre Arbeit!

Die Streiks sind ökonomischer Natur, sie fordern Lohnerhöhungen, die Einstellung von prekär Beschäftigten, manchmal die Verstaatlichung. Oft gehen sie mit der Blockade von Straßen,  sogar Eisenbahnlinien, Verwaltungseinrichtungen, Polizeistationen und Ministerien einher, mit der Besetzung öffentlicher Plätze, mit Brandanschlägen auf staatliche Gebäude, mit der Weigerung, Wasser- oder Stromrechnungen zu bezahlen...

Von Beginn an hatten die Streiks aber auch einen politischen Charakter, z.B wurde gefordert, die Leiter öffentlicher Einrichtungen von ihrem Posten zu «befreien», wie es mit Mubarak geschehen ist. Im November forderten die Angestellten der Kairoer Metro die Absetzung ihres Direktors, und die Beschäftigten in Unternehmen der Armee (sie besitzt 20–40% der Ökonomie) forderten, dass kein Offizier mehr eine leitende Funktion ausüben darf. Zwar wurden die großen Ereignisse der Revolution vor allem von sozialen Bewegungen getragen, doch standen bislang hauptsächlich politische, demokratische Ziele im Vordergrund: Meinungs- und Pressefreiheit, Wahlen, Verfassung usw.

Die politische Schwäche der Bewegung
Die Schwäche der sozialen Bewegung besteht bislang darin, dass sie über keine eigene politische Vertretung verfügt. Die Drohung, dass eine solche heranwachsen könnte, ist die Ursache für die zahlreichen hektischen politischen Wendungen an der Spitze: Armee und Islamisten stehen in Gegensatz zueinander, aber sie verbünden sich in dem Moment, wo sie sich von den ausgebeuteten Klassen bedroht fühlen. Dasselbe gilt im Verhältnis der Liberalen zu den Islamisten: Sie flüchteten lieber in den Schoß der Muslimbrüder, als sich von einem Volksaufstand an die Macht bringen zu lassen.

Die Arbeiterklasse hat keine eigene politische Organisation, die es ihr erlaubt, ihre politischen Forderungen zu verteidigen. Sie erwartete ihre Emanzipation bislang in der Hauptsache von der Armee, dann vom Islam, und mit ihm von der repräsentativen Demokratie und all ihren Vertretern wie den Liberalen und Nasseristen. Sie hat eigene Gewerkschaften aufgebaut, aber diese werden hauptsächlich von nasseristischen «Sozialisten», Aktivisten der Muslimbruderschaft oder klassischen Linken geführt, die alle die Arbeiterklasse auf ihre ökonomischen Forderungen einschränken oder auf falsche nationale Lösungen einschwören – Lösungen, die eine Allianz zwischen Arbeitern und patriotischen Unternehmern suchen.

Eine neue Generation und neue Ziele
Durch die Kämpfe der beiden letzten Jahre haben die Muslimbrüder ihren Einfluss in den Berufsverbänden, die sie führten (der Lehrer, Ingenieure, Ärzte, Apotheker, Anwälte, Richter, Journalisten...), weitgehend verloren. Unter den Werktätigen konnten sie nie einen wirklichen Durchbruch erzielen. Vor allem aber wird der Einfluss der regimetreuen Gewerkschaften durch die Bildung neuer Gewerkschaftsverbände in Frage gestellt, wovon die beiden größten allein 3 Millionen Mitgliedern zählen. Darüber hinaus bilden sich zahlreiche Kollektive: Vereinigungen in den Wohnvierteln, Streikkomitees, Verbände von Film- und Videokünstlern – all das verändert die psychologische, intellektuelle, politische und Medienlandschaft.

Eine neue Generation junger Aktivisten taucht auf, sie geht aus den ärmeren Klassen, aus Wohnvierteln und Fabriken, aus fortschrittlichen Gewerkschaftszirkeln, aber auch aus dem studentischen Milieu hervor und sucht in einem sozialistischen Programm die intellektuellen Werkzeuge für eine zweite Revolution. Ein erstes Anzeichen dafür gab es im Februar 2012 mit dem Aufruf von Studierenden an die Arbeiter, ein zweites im Mai/Juni mit dem unerwarteten Wahlerfolg des Nasseristen Hamdeen Sabahi. (Bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2012 hatte die Arbeiterbewegung zwei Kandidaten aufgestellt. Der nasseristische Kandidat erzielte in den großen Städten und in den proletarischen Vierteln das beste Resultat von allen.)

Ein weiterer Ausdruck der Suche nach einem politischen Ausweg ist das Bemühen von Fußballfans, eine Partei der «Ultras vom Tahrirplatz» aufzubauen, die sich als entschiedene Feinde der Armee und der Muslimbruderschaft und als Speerspitze der Revolution versteht und sich überall dort, wo sie auftritt, auf die «Arbeitenden» bezieht.

Diese Aktivisten, die ständig das Gefängnis oder den Tod riskieren, haben kaum Illusionen in den Schutz der Gesetze oder des Staates. Sie haben schnell begriffen, dass sie nicht nur mit dem eigenen Unternehmer, Chef oder Direktor zusammenstoßen, sondern mit der Regierung und dem Staat. Sie wollen die politische Revolution vom Januar 2011, die Mubarak gestürzt hat, durch eine soziale Revolution ergänzen, die diesmal auch all die kleinen Mubaraks stürzt – weil sich im Grunde für sie nichts geändert hat, außer allenfalls das Recht, dies auch zu sagen.
Es beginnt eine neue Periode, in der das einfache Volk zur politischen Macht strebt.

Aus: Tout est à nous! La revue (Paris). Nr.40, Februar 2013.

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