von Ingo Schmidt
Die Börsen sind wieder auf Rekordjagd. Dax und Dow Jones vermelden historische Höchstwerte, von denen zuletzt im Spätsommer 2008 zu hören war. Danach kamen Börsenkrach und Weltwirtschaftskrise. Diese Scharte scheint jetzt ausgewetzt, die Investoren sehen wieder frohen Mutes in die Zukunft und tragen ihr Geld zur Börse.
Dazu haben sie auch allen Grund: Infolge der Krise ist die Arbeitslosigkeit weltweit massiv gestiegen und die Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen gesunken. Nachdem staatliche Konjunkturpakete den Einbruch der Nachfrage abgebremst hatten und privater Konsum und Investitionen ganz allmählich wieder zulegten, konnte der Markt zu niedrigeren Kosten bedient werden. Unternehmensgewinne und Dividenden schossen in die Höhe. Finanzinvestoren, deren Vermögen dank großzügiger Staatszuwendungen sicher durch die Krise bugsiert wurde, waren sofort zur Stelle, um sich mit rentierlichen Aktien einzudecken.
Wo sollten sie auch sonst hingehen? Deutsche und amerikanische Staatspapiere gelten zwar nach wie vor als sichere Anlagen, werfen aber keine Rendite ab. Die deutlich höheren Renditen auf Staatspapiere anderer Länder, insbesondere der Euro-Krisenländer Griechenland, Italien, Portugal und Spanien, sind auf Risikoaufschläge und nicht auf gesicherte Erträge zurückzuführen. Wetten auf steigende Rohstoffpreise, mit denen sich nach dem scharfen Preisverfall im Laufe der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 ein schneller Euro verdienen ließ, sind auch nicht allzu vielversprechend. Die Rohstoffpreise sind längst wieder auf Vorkrisenniveau. Deshalb sprudeln die Gewinne und die Aktien dieses Sektors erfreuen sich großer Beliebtheit. Wetten auf weitere Preissteigerungen sind aber angesichts der Stagnation in den OECD-Ländern und einer seit 2010 anhaltenden Konjunkturabkühlung in China, Indien und Lateinamerika kaum zu erwarten.
In Deutschland wird viel Geld in Immobilien gesteckt. Außerhalb großstädtischer Zentren lässt sich damit aber auch nicht viel verdienen. Ähnlich wie Staatspapiere sind auch viele Immobilienkäufe durch die Suche nach Sicherheit und weniger durch allzu rosige Renditeerwartungen motiviert. Von einem Immobilienboom, der über die Bautätigkeit die Konjunktur ankurbelt, kann in Deutschland jedenfalls nicht die Rede sein. Im Unterschied zu China. Der, wenn auch vorübergehende, Einbruch des Welthandels 2008/09 hat die chinesische Führung zum Umsteuern von einer fast ausschließlich exportorientierten Wachstumsstrategie hin zur Ankurbelung der inländischen Nachfrage veranlasst. Als Folge dieses Kurswechsels ist jedoch eine veritable Immobilienblase samt der damit einhergehenden Konjunkturrisiken entstanden.
Gegenüber Staatspapieren, Rohstoff- und Immobilienmärkten stellen Aktien gegenwärtig tatsächlich die vielversprechendste Anlageform dar. Sie sagt allerdings nichts über die allgemeinen Aussichten der Vermögenssteigerung aus. Ob diese nun in der Form von Zinsen, Renten, Dividenden, einbehaltenen Gewinnen oder Spekulationsgewinnen anfallen, in jedem Fall müssen sie aus produziertem und realisiertem Mehrwert bezahlt werden. Finanzinvestitionen können Druck auf den Nichtfinanzsektor ausüben und Kapitalströme in bestimmte Bereiche lenken, sie können die Akkumulation des realen Kapitals aber nicht erzwingen. Wenn diese hinter der Akkumulation der Gewinnansprüche bzw. fiktiven Kapitals zurückbleibt, entstehen Finanzblasen. Sobald diese platzen, wird der Zirkulationsprozess unterbrochen. Deshalb hat ein Börsenkrach immer auch negative Auswirkungen auf Produktion, Beschäftigung und Absatz.
Die Aktienmärkte sind gegenwärtig noch weit von einer Finanzblase entfernt. Die Gewinne börsennotierter Unternehmen waren in den vergangenen zwei, drei Jahren hoch genug, um die gegenwärtigen Kurssteigerungen zu rechtfertigen. Doch das kann sich schnell ändern. Bei kleineren und mittleren Unternehmen ist es schon in den vergangen Jahren nicht so doll mit den Gewinnen gelaufen. Im Gegensatz zu den großen Aktiengesellschaften, die vom Exportaufschwung nach dem Kriseneinbruch 2008/09 profitieren konnten, produzieren die meisten Klein- und Mittelbetriebe vorwiegend oder ausschließlich für den Binnenmarkt, dessen Entwicklung in Deutschland notorisch hinter den Exporten her hinkt.
Doch auch mit den Exporterfolgen und den hierdurch ermöglichten Gewinnen wird es demnächst vorbei sein. Nachdem sich US-Regierung und Kongress nicht auf einen neuen Haushalt einigen konnten, sind Ausgabenkürzungen in Kraft getretenen, die der ohnehin schwachen US-Konjunktur zusetzen werden. In China, Indien und Lateinamerika sieht es nicht besser aus, und die Ausfuhren in die Problemländer der EU sind in vielen Bereichen, z.B. Autoindustrie, rückläufig. Ein Kernbestandteil der Sparpolitik besteht ja in der Senkung der Lohnkosten. Damit werden die Kostenvorteile, die die Agenda 2010 deutschen Exporteuren verschafft hat, wieder zunichte gemacht – zumindest auf solchen Märkten, auf denen Unternehmen aus Deutschland mit solchen in der Peripherie konkurrieren.
Die anlässlich des 10.Jahrestags der Verkündung der Agenda 2010 stattfindende Debatte über das notwendige Anschlussprojekt Agenda 2020 gibt bereits einen Vorgeschmack auf die Zeit nach der Bundestagswahl. Dann wird nicht mehr, wie in den Jahren 2010–2012 von Beschäftigungswunder die Rede sein, sondern von der Bedrohung des Standorts Deutschland. Dann werden wieder überbordende Löhne und Sozialabgaben angeprangert. Dass die bestehenden Kapazitäten bereits jetzt, wo der Export noch läuft, weniger ausgelastet sind als vor der Krise 2008/09 und es deshalb unabhängig vom Kostenniveau keinen Grund für Investitionen gibt, weil die Nachfrage mit den bestehenden Anlagen vollauf befriedigt werden kann, wird bei diesen Debatten wieder keine Rolle spielen.
Die Krise 2008/9 war mehr als eine Konjunkturkrise. Sie hat den neoliberalen Akkumulationszyklus abgeschlossen. Das heißt nicht, dass es keine potenziellen Märkte mehr gäbe, die der kapitalistischen Akkumulation zu neuem Leben verhelfen könnten. Eine Fortsetzung der neoliberalen Akkumulationsstrategien der vergangenen dreißig Jahre wird aber ganz sicher zu nichts anderem als weiteren Wirtschaftskrisen und sich verschärfenden sozialen und politischen Konflikten führen. Wissentlich oder nicht steuern Politik und Unternehmer genau in diese Richtung. Von einer Wiederkehr des Keynesianismus bzw. dessen ökologischem Update war nur während des kurzen Momentes der Staatsintervention die Rede, mit der die Krise 2008/9 eingedämmt wurde. Jetzt steht wieder der Neoliberalismus auf der Tagesordnung, dessen Unmöglichkeit von der letzten Krise überzeugend unter Beweis gestellt wurde
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