Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2013
Erster Streik an deutschen Amazon-Standorten
von Jochen Gester

Sucht man im Internet nach Firmendaten von Amazon, bekommt man nur Zugang zum Kundenportal der weltgrößten Handelsplattform. Über das Unternehmen selbst erfährt man so gut wie nichts. Weiter hilft nur Wikipedia. Doch letztlich muss man selbst die Frage beantworten, was Amazon eigentlich ist.

Die Geschäftsidee der Firma folgt der Parole: «Heute bestellen – morgen erhalten». Das geht nur, wenn die Glieder der Versandlogistik so schnell wie möglich ineinandergreifen und zudem so organisiert sind, dass nach jedem Bestellvorgang die Münze des Online-Händlers klingt. Das tut sie. In den vergangenen fünf Jahren hat sich der Umsatz verdreifacht. Die Erlöse verdoppelten sich. Doch es hat einen Preis, den jemand zahlt.

Das Geschäftsmodell produziert nicht nur ein ökologisches Problem für die Allgemeinheit in Form expandierenden Lkw-Verkehrs. Amazon sparte sich – wie der am 13.Februar ausgestrahlte Beitrag der ARD dokumentierte – auch die Sozialversicherungsbeiträge und die Lohnsteuern. Der Erfolg der Firma basiert auf der schamlosen Ausnutzung der wichtigsten beteiligten Akteure. Mit Buchverlegern schließt sie Knebelverträge, die nur noch die Großen der Branche zahlen können.

Zwei Verleger, die deshalb bei Amazon ausgestiegen sind, haben dies kürzlich öffentlich gemacht. Auf bis zu 65% hatten sich ihre Rabatte, Lagermiete, Porto, Jahresgebühren und immer neue Kosten addiert. Und natürlich tragen die Beschäftigten entscheidend dazu bei, dass die Firma ein Logistikzentrum nach dem anderen eröffnen kann. Leiharbeiter werden mit falschen Versprechungen aus Süd- und Osteuropa angeworben. Und auch die regulär Beschäftigen sind einem Arbeitsregime unterworfen, das an despotisch-tayloristische Fabrikarbeit erinnert, nur dass diese nun im Dienstleistungssektor in neuer Gestalt wieder aufersteht.

Der Arbeitstag bei Amazon

Am Standort Graben bei Augsburg haben ehemalige Beschäftigte in anonymisierter Form der Süddeutschen Zeitung einen Einblick in ihre Arbeitswelt gegeben (2.3.2013):

Die Führungskraft: «Beim sogenannten Start-Meeting vor jedem Arbeitstag hielt der Hallenmanager immer eine Ansprache. Er stand oben im ersten Stock, sein Team unten im Erdgeschoss. Das muss man miterleben, das war Motivation wie in den Galeeren. Jeder sogenannte Picker, der die Waren aus den Regalen zusammensammelt, hat einen Scanner, mit dem er die Waren scannt. Dieses Gerät misst aber auch deine Schrittweite, deine Bewegungen, deine Stückzahlen. Und es stellt fest, wenn du stehst. Der sogenannte Leader (Vorgesetzte) bekommt dann eine Meldung auf den Bildschirm: Der Picker steht. Für jeden Picker erstellt der Computer ein Balkendiagramm. Das zeigt, wie er gearbeitet hat. Wenn Leute unter der Linie waren, wurde das angesprochen.

17 Uhr war an jedem Tag der heilige Termin. Wenn bis dahin die Pakete nicht fertig waren, bekam der Leader Fehlpunkte. Diesen Druck muss er nach unten weitergeben, sonst verliert er den Job. Die Picker mussten bis zu 25 Kilometer am Tag gehen. Das alles mit einem Aluwagen und auf Betonboden in unbequemen Sicherheitsschuhen. Die Warenwagen werden per Aufzug in den dritten Stock gebracht, die Leute müssen aber laufen. Das Durchschnittstempo der Picker wurde vom Standort Leipzig vorgegeben. Da wurden ab 2012 alle Standorte verglichen. Ein Dienstplan im Dezember sah vor, dass ich durchgehend 20 Tage Nachtschicht machen sollte – ohne freien Tag. Ich ging zum Chef und sagte, das geht nicht. Ich bekam zu hören: ‹Wenn Sie nicht wollen, dann können Sie ja gehen. Es sind genügend andere da.›»

Natürlich wird ein Toilettengang erfasst und als Nichtarbeit registriert. In Leipzig wurde sogar ein Handscanner eingesetzt, der mit einem Countdown ausgerüstet anzeigte, wie viel Zeit nach bis zum nächsten Pick-up bleibt. Nach empörten Protesten wurde die Praxis jedoch eingestellt. Hier gibt es auch eine Rund-um-die-Uhr-Videoüberwachung, ergänzt durch Kontrollen, die an Flughäfen erinnern.

Der Packer: «In der Packabteilung herrschte unmenschlicher Zeitdruck: Bei den Singlepacks (Pakete mit einem Produkt) musste jeder pro Stunde 200 Stück verpacken. Ich schaffte im Schnitt etwa 75–100%. Bei den Multipacks (zwei Artikel oder mehr) muss man 100 Päckchen pro Stunde schaffen. Das ist aber nicht machbar. Meine Bestleistung lag bei 75%. Die Chefs sehen auf ihrem PC, wie viel Prozent du hast. Das wird dir dann am nächsten Tag bei Schichtbeginn gesagt. Wenn man nicht so viel Druck hätte, würde man viel weniger hudeln und viel weniger Fehler machen. Ich wurde auch einmal ins Krankenhaus gebracht, wegen Kreislaufproblemen. Ich glaube, das Rote Kreuz war drei- bis viermal pro Tag da, um Leute zu behandeln.»

Der Cart-Runner: «Die Pause dauert offiziell 35 Minuten. Aber ich brauchte von meinem Arbeitsplatz zur Kantine fünf Minuten hin und fünf Minuten zurück. Da ich beim zweiten Gong schon wieder an meinem Arbeitsplatz sein musste, musste ich mich immer sehr beeilen, wenn ich was essen und noch eine rauchen wollte. Effektiv hatte ich eigentlich nur 25 Minuten Pause. In manchen Hallen ist es im Sommer sehr heiß und stickig. Da sind immer wieder Mitarbeiter umgefallen.»

Gewerkschafter Gürlebeck: «Die Kantine ist desolat, weil teuer und schlecht. Meistens gibt es Leberkäs und der ist innen oft noch roh. Immer wieder gibt es spontane Schichtverlängerung oder -verkürzung. Im Startmeeting wird dann gesagt: Und übrigens ist heute eine Stunde länger. Bei der Einstellung heißt es, jeder zweite Samstag sei frei. Aber dann haben die Leute nur zehnmal im Jahr am Samstag frei – wenn sie Glück haben.»

Ganz kurzen Prozess macht die Firma bei «Diebstählen». Dann kommt die Security, nimmt den Beschäftigten die Karte ab und führt sie nach draußen. Es heißt dann, sie werden «terminiert». Es spielt keine Rolle, ob die Betroffenen vielleicht nur ein Produkt in die Hosentasche gesteckt haben, weil sie schon beide Hände voll hatten und die Ware woanders nicht unterbringen konnten. Mitte Januar wurde einem Mitarbeiter sogar fristlos gekündigt, nur weil er seine Meinung gesagt hatte. Die Firma überwies dem Gekündigten einen Betrag von 1 Cent für den Monat. Der Gewerkschafter sagt dazu: «Mir kommt es vor, als würden die Menschen dressiert werden … Man geht da rein und muss für sieben Stunden seine Persönlichkeit aufgeben. Selbstbestimmung gibt es nicht.»

Die ersten Streiks

Viele Beschäftigte sind froh, in den Logistikcentern überhaupt Arbeit zu bekommen, gerade wenn sie lang erwerbslos waren. Für manche ist es ja schon ein Fortschritt, wenn sie regelmäßig ein Gehalt überwiesen bekommen. Vor allem Ungelernte freuen sich, mehr als vorher zu verdienen. Doch die immer wieder erlebten Demütigungen bohren am Selbstwertgefühl der Leute, sodass Formen kollektiver Gegenwehr entstehen.

In Graben, Bad Hersfeld und Leipzig gibt es jetzt einen Betriebsrat, auch in Pforzheim soll im Juni gewählt werden. Ver.di unternimmt den Versuch, per Arbeitskampf an den deutschen Standorten die Tarifbindung durchzusetzen. Gelten sollen die Tarife für den Einzel- und Versandhandel. In Hessen müssen danach Stundensätze von 11,69 Euro für Hilfstätigkeiten und 12,18 Euro für gelernte Kräfte gezahlt werden. In Leipzig soll die Lohnuntergrenze 10,66 Euro sein und nach einem Jahr auf 11,39 Euro steigen. Gegenwärtig beträgt das Einstiegsgehalt bei Amazon 9,30 Euro.

Ver.di fordert darüber hinaus ein tarifliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld und verbesserte Nachtarbeitszuschläge. Da Amazon nicht bereit ist, über eine Tarifbindung zu verhandeln, hat es in Bad Hersfeld und Leipzig jetzt die ersten Warnstreiks gegeben. In Leipzig haben 92% der mehr als 500 Gewerkschaftsmitglieder an einer Urabstimmung teilgenommen, 97% davon haben für einen Erzwingungsstreik gestimmt. Amazon rüstet sich dagegen mit der verstärkten Einstellung von Leiharbeitern. Der Gang wird nicht einfach, die Kollegen brauchen Öffentlichkeit, um den Druck auf den Arbeitgeber zu erhöhen.

Amazon hat seinen Belegschaften ein anspornendes Motto verpasst: «Arbeite hart, habe Spaß, schreibe Geschichte.» Vielleicht erfüllt sich das Motto ja auf ganz unerwartete Weise – als Ausbruch aus dem Hamsterrad und Neueroberung einer Arbeit in Würde und mit Maß.

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