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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2013
Dimitris Psarras über Hintergrund und Charakter der «Goldenen Morgenröte»

Weimar in Athen: Im Zusammenbruch des politischen Systems und dem kometenhaften Aufschwung einer Nazipartei des alten Typs scheint sich Geschichte zu wiederholen. Auch die notwendige antifaschistische Einheitsfront ist eine Lektion, die nochmal zu lernen ist.
Das nachstehende Interview führten Eleni Varikas und Michael Löwy.

Wo hat die Neonaziorganisation Chrysi Avghi (CA, «Goldene Morgenröte») ihren Ursprung?

Chrysi Avghi wurde im Dezember 1980 als Naziorganisation gegründet. Seither besteht ihre Führung aus derselben Personengruppe, ihr unangefochtener Chef ist Nikolaos Mixaloliakos. Während der Obristendiktatur [1967–1974] war Mixaloliakos Mitglied der Neonaziorganisation «Partei des 4.August». Nach dem Sturz der Diktatur gab es zahlreiche Attentate von Juntaanhängern in Zusammenarbeit mit den italienischen Neofaschisten von Ordine Nuovo. Mixaloliakos wurde beschuldigt, Sprengstoff besorgt zu haben, verurteilt und verbrachte ein Jahr im Gefängnis. 1984 ernannte Papadopoulos, der Ex-Diktator im Gefängnis, Mixaloliakos zum ersten Führer der Jugend der von Papadopoulos gegründeten Partei EPEN (Nationale Politische Union).

Aber Mixaloliakos blieb nicht lange in dieser Funktion, ihm war diese Partei von Juntaanhängern nicht hart und vor allem nicht antisemitisch genug. Er reaktivierte CA und setzte die Nazipropaganda fort. Ab dem Beginn der 90er Jahre profitierte die Organisation von der nationalistischen Welle in Folge des Konflikts zwischen Griechenland und der früheren jugoslawischen Republik Mazedonien um den Namen Mazedonien. Es kam zu ersten öffentlichen Auftritten (z.B. bei nationalistischen Massendemonstrationen), aggressive Akte häuften sich.

Welche Differenzen bestehen zwischen CA und den anderen Gruppen der extremen Rechten in Griechenland?

Die meisten Formationen der extremen Rechten, die nach dem Sturz der Diktatur aufgetreten sind, zeichnen sich durch starke nationalistische und traditionalistische Tendenzen aus – sie sind für eine Intervention der Armee in der Hoffnung auf eine Restauration der Monarchie und identifizieren Kirche und Staat. Dagegen hat CA eine klar nazistische Weltsicht, die nicht den Vorstellungen der anderen Parteien der extremen Rechten entspricht. Alle früheren Tendenzen, besonders die Beziehungen zu den Überresten der Diktatur, zu den Monarchisten und der Kirche übernimmt CA nur aus taktischen Gründen und als ergänzende Elemente.

Welches sind die besonderen Nazikennzeichen von CA? In welcher Form repräsentiert oder reaktiviert CA eine Nazitradition in Griechenland?

Seit ihrem ersten Auftreten wird CA mit der deutschen NS-Ideologie identifiziert. Es handelt sich nicht um eine Partei der sog. «dritten Welle» der europäischen extremen Rechten. Rassismus und Gewalt sind wesentliche Bestandteile. In ihren Publikationen übersetzt sie Naziklassiker wie Hitler, Rosenberg und Freisler. Außerdem kooperiert CA periodisch mit anderen Neonazibewegungen in Europa.

Aber das Wichtigste sind nicht die ideologischen Konvergenzen. CA folgt mit der Schaffung eigener Sturmabteilungen (SA) sehr genau der politischen Praxis der NSDAP, die in den großen Städten ganze Stadtviertel «eroberte». CA-Aktivisten zerschlagen die Verkaufsstände von Migranten und greifen sie massiv an. Die Anwendung von Gewalt ist ein konstitutives Element ihrer Praxis und nicht bloß eine gelegentliche Handlung ihrer extremistischsten Mitglieder.

Wer sind nach der Ideologie von CA die «Feinde»? Die Juden, die Homosexuellen, die Migranten, die Muslime, die Aktivisten der Linken, die Feministinnen?

Alle diese gehören laut CA-Ideologie zur Kategorie der «Untermenschen». Sie sind Feinde und somit Zielscheibe. Aber CA achtet darauf, die Zielscheiben nach der politischen «Mode» jeder Phase zu bestimmen. Anfangs der 90er Jahre war in Griechenland die nationalistische Hysterie um den Namen Mazedonien «Mode». Damals waren die Aktivisten der internationalistischen Linken die Hauptzielscheibe von CA, weil sie «Verräter an der Nation» seien. In den letzten Jahren sind die Migranten zur Hauptzielscheibe geworden, seitdem sich erneut ein politisches Klima der Fremdenfeindlichkeit im Land etabliert hat, darauf stützt sich CA bei ihrer blutigen Propaganda.

Wie entwickelten sich die Wahlergebnisse von CA in den letzten Jahren?

Zum ersten Mal trat die Organisation bei den Europawahlen 1994 zu Wahlen an, da erhielt sie 7242 Stimmen (0,1%). Danach nahm sie selektiv an mehreren Wahlen teil, mit recht niedrigen Ergebnissen. Ein sichtbareres Resultat erzielte sie bei den Europawahlen 1999, wo sie 0,8% der Stimmen erhielt. Bei den Kommunalwahlen von 2002 arbeitete sie mit G.Karatzaferis zusammen, der eine von Le Pen inspirierte rechte Partei gegründet hatte. Bei den Europawahlen 2009 trat sie wieder unter ihrem eigenen Namen an und erhielt 0,5%, bei den Parlamentswahlen im selben Jahr bekam sie nur 0,3%.

Den Durchbruch brachten die Kommunalwahlen 2010, als die Krise bereits begonnen hatte. CA kam in Athen auf 5,3% und Mixaloliakos wurde in den Stadtrat gewählt. In manchen Wahlkreisen im Zentrum von Athen erzielte sie noch höhere Ergebnisse. Bei den Parlamentswahlen im Mai 2012 kam die Partei auf 7,0% (441000 Stimmen), einen Monat später auf 426000 Stimmen (6,9%) und 18 Abgeordnete.

Wie erklärt sich ihr spektakulärer Wahlerfolg 2012?

Ohne die Wirtschaftskrise wären die Dinge zweifellos anders gelaufen. Aber die Krise reicht nicht, um zu erklären, warum eine so extreme Formation für so viele Bürger anziehend ist. Wenn die Krise nicht den Zusammenbruch des politischen Systems provoziert hätte, hätten wir nichts dergleichen erlebt. Die Mehrheit der CA-Wähler meint, sich mit Hilfe dieser extremen Wahl an den Politikern, den Parteien, den Regierungen rächen zu können. In ihrer totalen Verzweiflung sind sie der Überzeugung, dass dem Bürger nur das eine Instrument bleibt, sich mit Hilfe dieser extremistischen Organisation zu rächen. Es ist ein klassischer Fall eines kollektiven Ressentiments. Aber man darf auch nicht die Tatsache unterschätzen, dass sich CA mit vielen ihrer Sprüche – vor allem über Migranten – auf einem Terrain bewegt, das lange vorher von fremdenfeindlichen Kampagnen vorbereitet wurde. Die Medien, besonders die privaten Fernsehanstalten, verbreiten seit langem verschiedene nationalistische und rassistische Stereotypen.

Außerdem haben die beiden größten Parteien – ND und PASOK – einen großen Teil der migrantenfeindlichen Rhetorik von CA übernommen, im naiven Glauben, deren Wähler zu sich herüber zu ziehen. Diese beiden Parteien haben 2011 eine Koalitionsregierung mit der rechtsextremen Partei LAOS gebildet und somit zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur die Beteiligung der extremen Rechten an der Regierung legitimiert.

Wie kommt es, dass die schrecklichen Leiden Griechenlands unter der Nazibesetzung den jüngsten Erfolg des Neonazismus nicht verhindert haben? Mangelt es an historischer Erinnerung?

Es scheint, dass die historische Erinnerung nicht ausreicht, wenn das Gefühl der Verzweiflung und der blinden Rache massiv zunimmt. Aber noch etwas anderes muss berücksichtigt werden. Während der deutschen Besatzung gab es in Griechenland zahlreiche Nazikollaborateure. Da auf die Okkupation der Bürgerkrieg folgte (1946–1949), wurden viele von diesen zu Verfechtern des «nationalen Staates». In Griechenland ist deshalb nicht nur die «Entnazifizierung» ausgeblieben, die es in mehreren europäischen Staaten gab. Hier sind aus Kollaborateuren auch sichtbare staatliche Funktionsträger geworden, während die wirklichen Widerstandskämpfer, d.h. die Linke, nach dem Krieg von der Staatsmacht als Verräter denunziert und ins Exil oder Gefängnis geschickt wurden.

Wie kommt es, dass Gewaltakte von CA gegen Migranten und sogar die Angriffe auf Abgeordnete der Linken ungestraft bleiben?

Es ist wahr, dass sehr wenige dieser Angriffe vor Gericht kommen. Der Grund ist, dass CA seit Jahren besondere Beziehungen zur Polizei und insbesondere zu deren paramilitärischen Sondereinheiten unterhält. Bei den letzten Wahlen zeigte sich, dass ein großer Teil der Polizeibeamten für CA gestimmt hat. Das ist auch der Grund, warum die Behörden zögern, gegen Angriffe der Nazis zu ermitteln.

Hinzu kommt, dass es kein soziales Netzwerk zur Unterstützung der betroffenen Migranten gibt, deshalb haben diese Angst, solche Vorkommnisse anzuzeigen, aus Furcht vor Sanktionen, vor allem wenn sie keine Papiere haben. Erst in jüngster Zeit haben die Behörden angefangen, endlich zu reagieren, vor allem nachdem CA-Abgeordnete führend an besonders provokanten Aktionen gegen migrantische Kleinhändler beteiligt waren. Das Parlament hat ihre Immunität sofort aufgehoben, und der Minister für öffentliche Ordnung hat die Polizisten suspendiert, die als Schutztruppe der Parlamentsgruppe von CA eingesetzt waren.

Wie bewertet die Linke die neonazistische Gefahr in Griechenland? Gibt es ein gemeinsames Vorgehen?

Leider gibt es bis heute keine Anzeichen für eine gemeinsame antifaschistische Strategie der Linken. All diese Parteien und Organisationen halten ihre programmatischen Differenzen untereinander für wichtiger. Zum Beispiel akzeptiert die KKE in keinem Fall eine Zusammenarbeit mit SYRIZA, der sie vorwirft, «proeuropäisch» zu sein, während SYRIZA nicht mit Dimar sprechen will, weil sie an der volksfeindlichen Regierung von Samaras beteiligt ist. Natürlich agieren all diese Parteien und die sozialen Bewegungen jede auf ihre Weise, um sich der faschistischen Bedrohung entgegenzustellen, aber es ist offensichtlich, dass das nicht reicht. Ich fürchte, dass sie die neonazistische Gefahr vielfach unterschätzt haben, und sie wurden wahrscheinlich von der Tatsache überrascht, dass es nicht genügt, den Charakter von CA zu «entlarven», um ihr die Massenunterstützung zu entziehen. Die Generalsekretärin der KKE, Aleka Papariga, meinte z.B., wenn CA ins Parlament kommt, werde sie ins politische System integriert werden, das hat sich als Irrtum herausgestellt. Das Gegenteil ist passiert. Nach ihrem Wahlerfolg ist die Organisation noch provozierender und aggressiver aufgetreten.

Dimitris Psarras ist ein bekannter griechischer Journalist und Mitbegründer von Ios (Virus) – einer unabhängigen Wochenendbeilage der Tageszeitung Eleftherotypia und seit zwanzig Jahren ein Organ des kritischen Journalismus. Psarras ist aktuell Redakteur der selbstverwalteten Tageszeitung Efimerida ton Sindakton (Zeitung der Redakteure). Er verfasste das «Schwarzbuch Chrysi Avghi».

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