von Michael Banos
Sich selbst ein Bild machen, mit eigenen Augen nachsehen; etwas überprüfen; sich vor Augen führen; sich eine eigene Meinung bilden; sich informieren – das ist eine eigentlich positiv besetzte Kulturtechnik. Dass es auch anders geht, wie Bilder von Verzerrung, Hass, Verachtung und vermeintlicher Bedrohung gemacht und weitergegeben werden, zeigt Klaus-Michael Bogdal in einem fundiert recherchierten Buch, wofür ihm kürzlich auf der Buchmesse in Leipzig den Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen wurde. Er berichtet über ein kollektives Gedächtnis der Ablehnung alles Fremden über Jahrhunderte hinweg, nennt es treffend das «böse Gedächtnis» der Kultur.
Solche Bildermacherei hat schon der alte Goethe in den «Zahmen Xenien» aufs Korn genommen:
«Dummes vors Auge gestellt
hat ein magisches Recht –
weil es die Sinne gefangen hält,
bleibt der Geist ein Knecht.»
Es geht um das Bild des «Zigeuners» in der europäischen Literatur und Kunst in den letzten 600 Jahren. Vom Spätmittelalter bis heute, belegt durch historische Chroniken, Rechtsdokumente bis hin zu Holocausterinnerungen von Sinti und Roma. 600 Jahre Geschichte von Diffamierung, Ausgrenzung und Verfolgung von Norwegen bis Spanien, von England bis Russland.
Der Autor, Professor für Germanistische Literaturwissenschaft in Bielefeld, schreibt Folgendes über das Wort «Zigeuner»:
«Die Bezeichnung ‹Zigeuner› ist eine von mehreren konkurrierenden Fremdbezeichnungen, neben ‹Tatare› oder ‹gypsies›. Eine sehr frühe deutsche Quelle für ‹Zigeuner› stammt aus dem Jahr 1427. Die etymologische Herkunft konnte meiner Ansicht nach bisher aber nicht überzeugend geklärt werden. Die plausibelsten Versuche führen das Wort auf das byzantinische Griechisch zurück. Die häufigste Erklärung in den ersten Jahrhunderten nach der Einwanderung war die: Es bedeute ‹ziehender Gauner›.
Der Begriff wurde stets in diskriminierender Absicht gebraucht, auch der Kontext ist durchweg negativ: Zigeunerwirtschaft, zigeunern und so weiter. Der Nationalsozialismus hat die Diskriminierung dann auf die Spitze getrieben, ‹auf Zigeunerart leben› hieß es da etwa. In meinem Buch verwende ich den Begriff, um die Konstruktion des Fremdbildes deutlich zu machen. Wichtig ist mir, dass die europäischen Gesellschaften nur bei diesem Volk eine Selbstbezeichnung nicht anerkannten, obwohl Wörter wie ‹Sinti›, ‹Roma› oder ‹Kalderasch› schon seit einigen Jahrhunderten bekannt sind. Wenn heute darüber diskutiert wird, ob man ‹Zigeuner› nicht doch verwenden dürfe, kommt mir das absurd vor. Wir diskutieren doch auch nicht ernsthaft die Berechtigung von Begriffen wie ‹Krauts› oder ‹Kaasköppe›.»
Der große historische Bogen von Verachtung und Verbrechen enthält auch Beispiele von Verherrlichung und Romantisierung, nur eben «normal» waren die «Zigeuner» nie in der europäischen Geschichte. Nur wenige Beispiele gibt es für einen solidarischen, vorurteilsfreien Umgang mit diesen Völkern. Interessanterweise kommt eines davon aus dem «Prekariat», ein Artikel, eine Stellungnahme aus der deutschlandweiten, organisierten Vagabundenbewegung aus den 1920er Jahren: In der Vagabundenzeitung Der Kunde schrieb Jo Mihaly 1929: «Es wird höchste Zeit, dass zugleich mit den dringenden Rechtsfragen der Kunden die Zigeunerfrage der öffentlichen Kritik und Meinung unterbreitet wird. Kunden, der Zigeuner ist euch nahverwandt, er ist der große Meister der Landstraße; vergesst den braunen Bruder nicht, den das zunehmende Elend infolge seiner verzweifelten Lage ärmer als uns selber macht.»
Im kollektiven Gedächtnis Europas blieben diese Menschen Fremde, Diebe, Asoziale, abgeschoben in Ghettos, ins Elend. Schlimm genug, wenn man so ein Buch als historische Abhandlung liest, leider ist auch die Aktualität erschreckend, die Klaus-Michael Bogdal belegt. Der zunehmenden Einwanderung aus Ländern Osteuropas wird hier und heute genau in dieser falschen alten Tradition begegnet: «Mit den Bootsflüchtlingen läuft das heute ähnlich ab», zieht Bogdal Parallelen. «Roma-Gruppen haben oft ihre Herkunft verschleiert, weil sie vermutlich aus dem Osmanischen Reich kamen. Das sah man damals nicht gern im christlichen Westeuropa. Da galt man schnell als türkischer Spion.» Daher gaben sie mitunter an, aus Ägypten zu kommen, eigentlich Christen zu sein und von dort Vertriebene. «In Wahrheit waren sie Einwanderer, die in Frankreich, Deutschland oder Spanien eine Existenzgrundlage suchten», schreibt Bogdal. «Auch die Boat People verschleiern ihre Herkunft, weil man dann nicht feststellen kann, ob sie aus einem sicheren Land kommen. Dazu müssen sie Geschichten von Leid und Verfolgung erfinden, damit sie anerkannt werden.» Und Bogdal kritisiert: «Wir zwingen sie eigentlich dazu, solche Geschichten zu erzählen.»
Die bis heute andauernde Ausgrenzung der Roma und Sinti werde sich rächen, wird Bogdal nicht müde zu mahnen. Seit dem Ende der Visumspflicht steigt die Zahl der Asylanträge von Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien in Deutschland. Ab 2014 gilt die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen in Europa. «Die Lage der Roma und Sinti ist sicherlich das größte soziale Problem, das auf die EU zukommt. Mehr noch als die Finanzkrise wird sie zur eigentlichen Nagelprobe für Europa», ist sich der Forscher sicher. «Es geht um zehn Millionen Menschen in der EU, die meisten davon leben in Rumänien, Bulgarien, Ungarn und der Slowakei. Diese Länder haben soziale Netzwerke nicht einmal für ihre ‹eigene Bevölkerung› und schon gar nicht für die verhassten Roma, die auch dort als Schmarotzer angesehen werden.»
Sein Buch ist eine historisch und aktuell politisch ausgezeichnete, wichtige und hoffentlich nicht folgenlos bleibende Arbeit.
Michael Banos ist Schriftsetzer und lebt als glücklich-parteiloser Kommunist in Dortmund.
Mehr über die «Bruderschaft der Vagabunden», über Wanderarbeiter, Obdachlose, ihre Kongresse und Publikationen findet sich im Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in Dortmund, www.fhi.dortmund.de.
Klaus-Michael Bogdal: «Europa erfindet die Zigeuner». Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin: Suhrkamp, 2011. 590 S., 24,90 Euro.
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