Die Behauptung
- «Bis 2025 wird eine Lücke von sechs bis sieben Millionen Fachkräften entstanden sein.»
- (Frank-Jürgen Weise, Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit)
- «Der Fachkräftemangel verschärft sich permanent.» (WamS, 24.2.2013)
- «60000 Ingenieure und 25000 IT-Experten fehlen jetzt bereits.» (Zeit-online, 14.5.2011)
Unternehmer, Politiker und Medien klagen fast täglich über den Fachkräftemangel. Angeblich drohen wirtschaftliche Ausfälle in Milliardenhöhe und die Abwanderung von Unternehmen ins Ausland.
Die Widerlegung
Statistiker der Bundesagentur für Arbeit sprechen von einem Fachkräftemangel, wenn
- – weniger als 150 arbeitslose Fachkräfte auf 100 gemeldete offene Stellen kommen, und wenn
- – die Zeit zwischen der Meldung einer offenen Stelle bis zu ihrer Wiederbesetzung («Vakanzzeit») um 40% über dem bundesweiten Durchschnitt liegt.
Diese Kriterien treffen jedoch nur auf sehr wenige Berufsgruppen zu: Im Juni 2012 bei 7 von 115 gelisteten Berufsgruppen mit insgesamt weniger als 30000 gemeldeten offenen Stellen. Dramatisierer des Fachkräftemangels sprechen daher lieber von einem Fachkräfteengpass. Ein Fachkräfteengpass liegt vor, wenn
– weniger als 300 arbeitslose Fachkräfte auf 100 gemeldete offene Stellen kommen, und wenn
– die Vakanzzeit über dem Bundesdurchschnitt liegt.
Eine erheblich über dem Bedarf liegende Erwerbslosigkeit in einer Berufsgruppe wird also schon als «Anzeichen für einen Engpass» gewertet! Bei dieser Definition ist es kein Wunder, dass die Bundesagentur für Arbeit und die Arbeitgeber schnell von einem Fachkräftemangel reden.
Die Zukunftsprognose für 2025 und ihre Widerlegung
Weises Behauptung vom Fachkräftemangel stützt sich auf eine bewusst ausgesuchte Variante von Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die auf Berechnungen künftiger demografischer Entwicklungen beruht.
Diese betrachten aber nicht die Zahl der möglichen Erwerbstätigen, sondern das sog. Erwerbspersonenpotenzial, das die Erwerbslosen einschließt! Eine steigende Arbeitsproduktivität und eine sinkende Bevölkerungszahl vermindern aber den Bedarf an Arbeitskräften. Sinkendes Erwerbspersonenpotenzial ist also nicht gleichbedeutend mit fehlenden Arbeitskräften!
Das IAB stützte sich damals auf Zahlen aus 2008. Zu dem Zeitpunkt kannte man jedoch einige Faktoren, die zu einem deutlich früheren Berufseintritt junger Leute führen, noch nicht: die Verkürzung der Gymnasial- und Studienzeiten und die Abschaffung der Wehrpflicht. Die waren 2011, als Weise seinen Spruch von den 6–7 Millionen fehlenden Fachkräften tat, aber bekannt und wurden unterschlagen.
Außerdem unterstellte Weise: Bis 2025 gibt es keinerlei Wanderungsbewegungen mit dem Ausland, und die Erwerbsquote – etwa bei den Frauen oder den Älteren (Rente mit 67) – erhöht sich nicht.
Der Kommentar
In Frage gestellt wird die Behauptung vom Fachkräftemangel indes auch vom Arbeitsmarkt selbst:
Wären Fachkräfte ein knappes, «händeringend» gesuchtes Gut, müssten die Preise dafür steigen.
Doch von deutlich steigenden Gehältern, verstärkt angebotenen, unbefristeten Vollzeitstellen oder attraktiven Weiterqualifizierungen im Job ist auch in den «Mangelberufen» wenig zu sehen. Und warum fehlen fast überall hoch qualifizierende Masterstudienplätze? Warum gibt es harte Zulassungsbeschränkungen selbst in Mangelfächern wie der Human- und Zahnmedizin? Warum haben viele Arbeitgeber seit 1990 und sogar noch 2009, als ihre Verbände schon mit der Klage über fehlende Fachkräfte begannen, Ausbildungsplätze abgebaut? Sollte es in einzelnen Berufen einen Mangel geben, wäre er jedenfalls nicht «demografisch» bedingt, sondern Folge politischer und ökonomischer Versäumnisse der letzten beiden Jahrzehnte. Gefehlt haben nicht junge Menschen, sondern genügend Ausbildungs- und Studienplätze.
Mit Logik und anhand der Fakten lässt sich die Mangeldiskussion nicht verstehen. Bleibt die Frage: «Wem nutzt das?» Es profitieren alle Unternehmer, die fertige Fachkräfte gerne billig im Ausland einkaufen und die Konkurrenz heimischer Fachkräfte schüren wollen. So lassen sich niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen leichter durchsetzen. Konsequent fordert BA-Chef Weise – der selbst aus dem Arbeitgeberlager kommt – für die kommenden Jahre 2 Millionen Fachkräfte aus dem Ausland.
Mit der Mangeldebatte wird zudem die reale Massenerwerbslosigkeit aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit gedrängt, Hartz IV erscheint als «soziale» Alimentierung der Unbrauchbaren und Unwilligen. Aus dem Gerede über Fachkräftemangel können teuflische soziale Folgen entstehen.
Gerd Bosbach lehrt an der FH Remagen Statistik und empirische Sozialforschung. Seine Erfahrungen aus der Beratung von Politik und Interessenverbänden hat er mit Jens Korff in dem Buch Lügen mit Zahlen humorvoll dargestellt. Als Mitherausgeber des Buches Armut im Alter (November 2012) beschäftigt er sich auch mit aktueller Sozialpolitik.
Daniel Kreutz ist Sozialpolitikexperte und als ehrenamtlicher Berater für Sozialpolitik beim Sozialverband Deutschland tätig.
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