Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2013
Weder sozial noch demokratisch, aber deutsch wie jeck
von Thies Gleiss

In Leipzig wurde am 23.Mai ein Fest gefeiert. In ihre offizielle Einladung schrieben die Veranstaltungsmanager: «Im Gewandhaus gratulieren Bundespräsident Joachim Gauck und Frankreichs Staatspräsident François Hollande der SPD zum Geburtstag – und, so darf man vermuten, Deutschland und Europa zur Existenz der SPD.» Nach 150 Jahren immer noch der tiefe Wunsch, von den Herrschenden anerkannt zu werden – das ist sie, die alte Tante SPD.

Es muss natürlich das Jahr 2013 und der 23.Mai sein. Es ist das Jahr der nächsten Bundestagswahl nach dem tiefen Absturz 2009, der mit einer Halbierung der Stimmenzahl der SPD endete. Und es ist der Tag der Verkündung der Verfassung des neuen, prowestlichen und prokapitalistischen Deutschlands im Jahr 1949. Die SPD klammert sich an die letzte Hoffnung, als Retterin deutscher Interessen angenommen zu werden und bei den Wahlen im kommenden September das historische «30-Prozent-Ghetto» wieder zu verlassen.

Für diesen Zweck darf ruhig ein bisschen Geschichte geklittert werden. Im Mai 1863 wurde von Ferdinand Lassalle der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet, der zur SPD nicht einmal soviel beigetragen hat wie Werra und Fulda zur Weser. Erst 1869 gründete sich die sozialdemokratische Partei in Eisenach, und spätestens mit der Vereinigung zur SAP 1875 in Gotha waren die «Lassalleaner» völlig verschwunden – ihr Erbe traten dann die Reformisten und Revisionisten an. Wenn sich die heutige SPD-Elite überhaupt noch jemandem aus der alten Riege verbunden fühlt, dann vor allem den Lassalleanern – und keinem Liebknecht senior, keinem Liebknecht junior, keinem Bebel.

Die Entscheidung für Lassalle als Gründervater ist also nicht nur Propagandataktik, damit es zum Wahljahr passt, sondern auch programmatisches Bekenntnis. Und wer die absolut undemokratische Verfassung des ADAV und den Vorsitzendenkult um Lassalle kennt, wird so viele Parallelen zur SPD von 2013 sehen, dass die Entscheidung ihrer Führung, im Mai 2013 Geburtstag zu feiern, ungewollt ganz sinnvoll erscheint. Dass 1913 zusätzlich noch das Todesjahr von August Bebel und Geburtsjahr von Willy Brandt ist, das ist fast schon zuviel an Jubelstoff für Gabriel, Steinbrück und Nahles, die ja vor allem sich selbst und weniger ihre reale Geschichte feiern wollen.

Die SPD war im letzten Viertel des 19. Jahrhundert eine gewaltige Erfolgsgeschichte. Die von Marx und Engels theoretisch erfasste und von ihnen persönlich-praktisch nur als kleine erste Schritte erfahrene politische Selbsterhebung der Arbeiterklasse zur Klasse für sich in Form einer unabhängigen Massenpartei schien unaufhaltsam Realität zu werden. Doch mit jedem Erfolg wuchs der Druck der «Dialektik der partiellen Errungenschaften» und die große Spaltung und die vielen kleinen Spaltungen der Arbeiterbewegung kündigten sich an. Im offiziellen Material der SPD zu ihrer Geburtstagsfeier heißt es: «Revolution oder Reform? Darüber streiten Linke immer wieder gern. Oft rufen Junge nach der Revolution, Ältere setzen auf Reformen. Für die Sozialdemokratie ist die Frage seit 1906 entschieden: Sozialdemokraten erstreben eine Revolution durch Reformen.»

Schon zehn Jahre früher, beim großen Hamburger Hafenarbeiterstreik, hatte die SPD erstmals gezeigt, dass die Entscheidung für Reformen und gegen Revolution im Ernstfall auch Abwiegelei und Verrat an realen Kämpfen bedeutete – wahlweise waren sie noch nicht reif genug oder sie gingen zu weit. Mit der furchtbaren Entscheidung, 1914 die Kriegskredite zu bewilligen, zeigte die SPD dann, dass dies im großen Ernstfall sogar brutale Unterstützung von Konterrevolution, Krieg und Unterdrückung hieß.

Das Festkomitee der Geburtstagsfeier 2013 erklärt die Entscheidung von 1914 mit erstaunlicher Offenheit: Die SPD wollte niemals mehr als «vaterlandslose Gesellin» bezeichnet werden, und die gefährliche Macht des rückständigen Zarenreichs musste aus humanitären Gründen eingedämmt werden. Die humanitären Kriege gibt es für die SPD immer noch, und die Furcht vor dem Vorwurf, das deutsche Vaterland zu verraten, tauchte zuletzt in der Bundestagsdebatte über die Banken-Rettungspakete und den Fiskalpakt auf.

Die maßgeblich von ihren eigenen Anhängern und Mitgliedern erkämpfte Revolution von 1918 wurde von der Führung der SPD verraten, bekämpft und auf die parlamentarische Bühne verdammt, sie wurde den rechten und faschistischen Kräften zum Fraß vorgelegt. Nur wenige Jahre später verfolgten diese dafür auch die SPD und bedankten sich auf ihre furchtbare Art für die Drecksarbeit. Für eine gemeinsame Einheitsfront aller Linken und Demokraten, die die Machteroberung der Nazis hätte verhindern können, war es dann zu spät. Diesen großen Fehler haben nicht nur Kommunisten und ihre KPD zu verantworten.

Schon vor der Entscheidung von 1914 hatten umfangreiche innerparteiliche Säuberungen und Strukturentscheidungen dafür gesorgt, dass die SPD keine demokratisch verfasste Mitgliederpartei mehr war. Unter der eisernen Fuchtel von Friedrich Ebert wurde die Transformation zu einer Partei vollzogen, in der die Mitglieder gar nichts, die Vorstände wenig und die Parlamentsfraktionen alles zu entscheiden haben. Heute ist das nicht besser, sondern durch den Umfang der Fraktionen, einen dienstbeflissenen Parteiapparat und die Möglichkeiten der Presse und sonstigen Medien noch viel klarer. Das zu beweisen, dazu bedurfte es nicht einmal des traurigen Spektakels der Kanzlerkandidatenkür von Peer Steinbrück. Parteiausschlüsse gegen ihre besten Köpfe und die Disziplinierung aufmüpfiger Parteistrukturen sind schon lange ein Markenzeichen der SPD, ebenso ihre böse Verantwortung für die Berufsverbote unter der Kanzlerschaft ihres bewunderten Vorsitzenden Willy Brandt 1972, der ausgerechnet damit «mehr Demokratie wagen» wollte.

Der Streit zwischen Sozialreform und Revolution ist in den Augen der SPD ein Streit zwischen Alt und Jung. Mit 150 Jahren ist die Partei offensichtlich aber schon so uralt, dass selbst die Sozialreform nur noch als vorauseilender Gehorsam gegenüber den Interessen des Kapitals und als schnöde Konterreform, als Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Mehrheit der Menschen daherkommt. Wer erst in Deutschland mit der Agenda 2010 und später in ganz Europa dafür sorgt, dass die Lebensqualität von Millionen Menschen drastisch verschlechtert und die Zukunft für eine ganze Generation zerstört wird, der vergeht sich an der Jugend und verrät in einer Weise die Interessen der Arbeiterklasse, wie seit 1914 und 1932/33 nicht mehr.

Der Parteivorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, erklärte in einem Streitgespräch im Fernsehen mit der Vize-Vorsitzenden der nicht zuletzt aus der jüngsten Abspaltung der SPD entstandenen LINKEN, Sahra Wagenknecht, es gebe nichts in der Geschichte der SPD, wofür er sich schämen müsse. Wenn er die Buchstaben seines Parteinamens noch mit sozial und demokratisch übersetzt, dann ist die SPD-Geschichte übervoll von Entscheidungen, für die sich Linke und auch Sozialdemokraten schämen müssten, und die furchtbare Folgen für die Menschen hatten.

Geblieben ist allein das D für deutsch. Dem ist die SPD die ganzen 150 Jahre treu geblieben. Wir sagen mal voraus, dass dies zu wenig ist, um den nächsten Kanzler zu stellen.

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