von Angela Huemer
Dieses Jahr war es anders als sonst. 2013 ist ein Gedenkjahr: 75 Jahre sind seit dem „Anschluss“ vergangen, der Annexion Österreichs durch NS-Deutschland, andererseits wurde in diesem Jahr eine neue Ausstellung im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen fertiggestellt und Anfang Mai der Öffentlichkeit präsentiert. Daher gab es in diesem Jahr zwei große Feiern in Mauthausen: am 5.Mai die Eröffnungsfeier der neuen Ausstellung und am 12.Mai die alljährlich stattfindende Befreiungs- und Gedenkfeier – diesmal ohne Bundespräsident und mit weniger offiziellen Ansprachen.
Viele ausländische Besucher der Befreiungsfeiern fahren mitnichten nur nach Mauthausen. Ihr erster Halt am zweiten Maiwochenende ist Ebensee am Traunsee im Salzkammergut, Samstag vormittag. Ebensee war eines der größten Außenlager von Mauthausen (s. SoZ vom Juni 2010). Am Nachmittag geht es Richtung Norden, nahe Linz, nach Gusen und Mauthausen. Ich komme mit der Bahn nach St.Georgen an der Gusen, es liegt nur 20 Minuten südöstlich von Linz. Die Gusen ist ein kleiner Fluss und Gusen ist der Name eines Ortsteils der Gemeinde Langenstein, der am Weg von St.Georgen nach Gusen liegt. Während Mauthausen weltweit bekannt ist, kennt man – vor allem in Österreich – Gusen kaum. Und doch war dort nicht nur ein Außenlager von Mauthausen, man kann vielmehr vom Lagerkomplex Gusen-Mauthausen sprechen. Insgesamt wurden rund 200.000 Menschen hierhin deportiert, bis Mai 2013 wurden 81.007 Opfer namentlich identifiziert.
Ich gehe zu Fuß zur Befreiungsfeier, die um 17h beginnen soll, entlang des Waldes, in den Donauauen, alles blüht und grünt. Es nieselt und ist relativ kühl. Als ich gegen 16h nach Gusen komme, ist schon ein Teil der Bundesstraße abgesperrt. Busse parken entlang der Straße, die meisten davon aus Italien. Dort, wo das Lager war, ist heute eine Wohnsiedlung. Mittendrin, nahe der Straße, ist das Memorial. Es umhüllt das Krematorium. Am 8.Mai 1965 wurde es eingeweiht, errichtet wurde es auf Betreiben von Überlebenden und nach dem Entwurf des Mailänder Architektenbüros B.B.P.R., Banfi, Belgiojoso, Peressuti und Rogers. Gian Luigi Banfi ist im Lager umgekommen, Lodovico Belgiojoso hat es überlebt. Direkt dahinter hat man 2004 ein kleines Museum eröffnet.
Dass Gusen lange Zeit weitgehend vergessen war, hatte vor allem wirtschaftliche Gründe. Einen Teil des Lagers, das sog. Gusen II, brannten die Amerikaner bald nach der Befreiung aus Angst vor Seuchen nieder. Wie in Mauthausen gab es auch hier Steinbrüche, sie wurden bis in die 1980er Jahre genutzt. Zunächst gliederte die sowjetische Besatzungsmacht den ehemaligen SS-Betrieb Deutsche Erd- und Steinwerke (DEST) in den USIA-Konzern ein (ein Firmenkonglomerat aus rund 300 Unternehmen, das die Sowjets bis 1955 in Österreich betrieben). Holz und Steine aus dem anderen Teil des Lagers wurden als Baumaterial verwendet.
„Das Lager war klein, oder?“, sagt ein Italiener, der jedes Jahr zum Erinnern hierher kommt, aus einem kleinen Dorf nahe Pisa. Er trägt seine Uniform, er gehört der Gemeindepolizei an. „Nein“, erkläre ich, und versuche zu zeigen, wo es war und dass es tatsächlich größer war als Mauthausen. Der dritte Teil des Lagers, Gusen III, der sog. Bergkristallstollen, wo Firmen wie Messerschmidt und die Steyr-Daimler-Puch AG, der größte Rüstungskonzern der „Ostmark“, KZ-Insassen für sich schuften ließen, wurde bald gesprengt. Nach Ende der Besatzungszeit wurde dann der Häftlingsfriedhof nach Mauthausen umgebettet und die Grundstücke sehr billig verkauft, meist an Leute von außerhalb, die gar nicht wussten, dass hier ein Lager gewesen war.
Noch vor der offiziellen Feier versammelt sich eine große Gruppe Italiener, darunter viele Schulkinder, im Memorial, sie haben ihr eigenes Mikrofon mitgebracht. Drei junge Schüler lesen nervös selbstverfasste Texte vor, einer liest die Namen von hier Ermordeten vor. Kurz darauf versammeln sich Polen, zwei Überlebende in Häftlingsuniform, uniformierte Soldaten und eine große Gruppe Pfadfinder.
„In Gusen ist es so, wie die EU sein sollte, wir sind eine große Familie", sagt Rudi Haunschmied zu mir, später, nach der Feier, als der Himmel endgültig seine Schleusen öffnet. Rudi Haunschmied ist hier aufgewachsen, in St.Georgen an der Gusen, er ging in der „Baracke“ zur Grundschule. Die Baracke war einer der Bauten, die die SS für Verwaltungs- und Wohnzwecke errichtet hatte. Er ist Jahrgang 1966 und war neben den Überlebenden, die schon früh ihre Erinnerungen aufschrieben, derjenige, der schon sehr früh, noch als Kind, die Geschichte dieses schwierigen Ortes erkundete und später die Geschichte dieses vergessenen Lagers systematisch aufarbeitete.
Anders als tags darauf in Mauthausen und auch in Ebensee wird die Feier in Gusen ehrenamtlich organisiert. Rund sechs Personen bilden den harten Kern des „Gusen Memorial Committees“, das auch eine Internetseite betreibt. Eine davon ist Martha Gammer, pensionierte Lehrerin. Unermüdlich verteilt sie das Programm der Feier, in dem auch die Reden, die in diesem Jahr auf polnisch, italienisch und spanisch gehalten werden, nachzulesen sind. Der Regen hört nicht auf. Als erstes spricht der Langensteiner Bürgermeister Christian Aufreiter: „Es ist nicht immer einfach, an einem solchen Ort zu leben, das ist eine tägliche Herausforderung.“ Er erzählt von einer neuen Initiative, „Bewusstseinsregion“: In Ideenwerkstätten soll die Bevölkerung stärker eingebunden werden beim Schaffen einer neuen Gedenkkultur.
Das Thema der diesjährigen Feier sind die Retterinnen und Retter. Das alljährliche Thema gibt das Mauthausenkomitee vor, das ist die seit 1997 bestehende Nachfolgeorganisation der österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen. In Gusen wird das Thema von den Rednern aufgegriffen, und auf sehr schöne Weise erzählen junge Leute des Gusen Komitees von kleinen und großen Gesten der Hilfe. Danach legen sie jeweils als Symbol einen Apfel auf die auf dem Tisch liegenden Granitsteine. Sogar für kleine Gesten des Helfens riskierte man das Leben damals. An die Teilnehmer der Feier werden Brot, Salz und Äpfel verteilt, auch ein kleines Buffet steht bereit, alles ehrenamtlich. Rudolf Haunschmied hatte recht, das Gedenken hier ist ernsthaft, herzlich und familiär.
Bewundernswert, wie die Leute ausharren, dem zunehmend schlechter werdenden Wetter zum Trotz – die polnischen Pfadfinder ganz ohne Regenschutz. Rechts neben der überdachten Rednertribüne sitzen einige Überlebende. Einige von ihnen sehen gebrechlich aus. Als einer von ihnen, ein Mailänder mit seinem Sohn, nach der Feier in Richtung Krematorium geht, stimmt irgendwer „Bella ciao“ an. Das ist der Moment, in dem mich meine Gefühle einholen. (Die Schwester eines der Toten von Gusen ist eine liebe Freundin von mir, eine sehr alte Dame aus Pavia.)
Wie wird wohl die große Feier am nächsten Morgen in Mauthausen sein? Groß und unpersönlich? Die Familie, die mich mitnimmt von Gusen nach Mauthausen, wohnt in Langenstein. Regina, die Mutter eines jungen Studenten, der Zivildiener war im Lager, wuchs in Mauthausen auf, nicht weit vom Steinbruch. Dort, erzählt sie mir, als wir in Richtung Lager gehen, haben sich nach dem Krieg sogar einige ehemalige Häftlinge niedergelassen, Spanier, die Mädchen aus dem Ort geheiratet haben. Wir gehen die berüchtigte Treppe neben dem Steinbruch hinauf ins Lager, die Treppe, die unzähligen Gefangenen den Tod brachte.
Die vielen Denkmäler der einzelnen Nationen fallen auf und wie viele Menschen gekommen sind. Entlang des Appellplatzes sind Stühle aufgestellt. Wir gehen nach vorne, nahe des Eingangs zur neu gestalteten Ausstellung. Um 11h beginnt der Einzug der einzelnen Gruppen. Mercedes Echerer, eine österreichische Schauspielerin, moderiert. Zuerst begrüßt sie die Teilnehmer des „offiziellen“ Österreich und Anna Hackl, deren Familie KZ-Insassen rettete. Dann kommen die Delegationen aus den einzelnen Ländern. Klugerweise ist der „Einzug“ gleichzeitig die Zeremonie. Willy Mernyi vom Mauthausenkomitee hält eine kurze Rede, und dann erfährt man zu jeder Gruppe Hintergrundinformationen und kleine und größere Geschichten des Rettens.
Wie weit der Schrecken gereicht hat, wird angesichts der vielen verschiedenen Länder klar, die hier vertreten sind: u.a. Weißrussland, Ukraine, Russland, China, Slowakei, Slowenien, Luxemburg, Griechenland, Zypern, Kasachstan, Kroatien, Kosovo, Albanien… Die mit Abstand größte Gruppe jedes Jahr sind die Italiener. Das Bild, das sich bietet, ist beeindruckend. Unzählige Fahnen der einzelnen Regionen und Ortschaften. Ich sehe den Polizist vom Vortag wieder, er hat Tränen in den Augen. Und wieder fängt einer an zu singen „bella ciao“, und alle stimmen mit ein.
Nach der Feier mache ich eine Führung mit, gemeinsam mit einer Schülergruppe. Die neue Ausstellung ist gelungen, übersichtlich. Beim Rundgang durch das Gelände fällt mir, wie auch schon in Gusen, auf, wie wunderschön die Landschaft hier ist. Das ehemalige KZ liegt auf einer Anhöhe, von hier aus sieht man die Donau und hohe, schneebedeckte Berge.
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