Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2013
Essen: Mehring, 2012. 192 S., 196 Abbildungen, 29,90 Euro (englische Erstveröffentlichung 2003)
von Werner Abel

«Die Weltpartei des Leninismus», diesen Titel gab der wortgewaltige Vorsitzende des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, Grigori Sinowjew, der Buchausgabe seiner Eröffnungsrede auf dem V.Weltkongress der KI im Juni 1924. Sinowjew begründete mit dem «Leninismus» nicht nur eine neue Theorie, die den Marxismus in der Epoche des Imperialismus ergänzen sollte (ein «-ismus», verbunden mit seinem Namen, wäre von Lenin mit Sicherheit entschieden abgelehnt worden), er zeigte auch den Weg auf, wie die kommunistischen Parteien in aller Welt auf diese Theorie eingeschworen werden sollten. Dieser Weg, so Sinowjew, sei die «Bolschewisierung» der Parteien, also die Übernahme der Kampf- und Organisationsformen der russischen Kommunisten, die aus der Mehrheitsfraktion der russischen Sozialdemokratie, den Bolschewiki, entstanden waren.

«Bolschewisierung», so hatte Sinowjew auf dem Kongress gesagt, «das ist die Schaffung einer festgefügten, wie aus einem Stein gehauenen zentralisierten Organisation, die harmonisch und brüderlich die Differenzen in ihren eigenen Reihen austrägt, wie es Lenin gelehrt hat».

Drei Jahre später sollte Sinowjew die «Brüderlichkeit und Harmonie» seiner Genossen am eigenen Leib spüren, als er aus der KPdSU ausgeschlossen, erneut aufgenommen, wieder ausgeschlossen, ja sogar nach Sibirien verbannt wurde, um nach einem aufsehenerregenden Prozess 1936, dem ersten der großen Schauprozesse in Moskau, schließlich hingerichtet zu werden. Zuvor war das Opfer fotografiert worden, die Mörder dokumentierten ihre Taten penibel – die auf einer Karteikarte der stalinistischen Geheimpolizei GPU erhalten gebliebenen Bilder zeigen einen gebrochenen, hoffnungslosen und gefolterten Menschen.

Archivarbeit

Diese Bilder und die des Dichters Ossip Mandelstam, geboren 1891, der 1938 bei Wladiwostok in einem Durchgangslager des Gulag sterben sollte, sowie die von Isaak Babel (1894–1940), dem weltberühmten Schöpfer der Erzählungen «Die Reiterarmee» und der «Geschichten aus Odessa», den man erschießen ließ, noch bevor er im Gefängnis eine Geschichte der Tscheka zu Ende bringen konnte, bilden den Auftakt zu dem verstörend und erschreckend wirkenden Bildband von David King: Ganz normale Bürger. Die Opfer Stalins*.

David King (geb. 1943 in London) hat die im Archiv der Moskauer Gesellschaft «Memorial» gelagerten Karteikarten der stalinistischen Geheimpolizei, die nacheinander die Namen GPU, OGPU und NKWD trug, ausgewertet und 169 Opfer des stalinistischen Terrors der Vergangenheit entrissen.

Die ursprünglich auf diesen Karteikarten enthaltenen kleinen, für dieses Buch extrem vergrößerten Bilder der Opfer waren ohne Kunstlicht mit einer langen Belichtungszeit aufgenommen worden. So entstanden keine Momentaufnahmen, sondern Bilder von Gesichtern, die durch Unverständnis, Angst und Folter, in den wenigsten Fällen von Hoffnung gezeichnet sind.

Die Bilder zeigen aber auch: Vor dem Terror war niemand sicher. Weder die Nationalität noch das Geschlecht, weder das Alter noch die soziale Stellung, der Rang, die Funktion oder die Parteimitgliedschaft schützten vor der Hinrichtung. Es gab auch keinen Rechtsweg, der tödliche Schuss erfolgte oft am Tag oder Nachfolgetag der Verurteilung. Wenn für die Produktion von potenziellen Opfern auch viel Fantasie aufgebracht wurde, war die Urteilsbegründung in der Regel die gleiche: Egal, ob es sich um einfache Hausfrauen oder Intellektuelle, um Bauern oder Kommandeure der Roten Armee, um ungelernte Arbeiter oder Wirtschaftsfunktionäre, um Kommunisten oder Parteilose handelte, alle hatten der Anklage zufolge nur ein Ziel, nämlich durch Vorbereitung und Organisation terroristischer Aktionen die Sowjetmacht zu stürzen. Ab Mitte der 30er Jahre wurde auch «Trotzkismus» ein Straftatbestand, vor allem Juden schienen prädestiniert, für faschistische Geheimdienste zu arbeiten und zu spionieren.

Vorzugsweise Kommunisten

Die Opfer, die in diesem Buch der Anonymität entrissen werden, waren nicht nur Bürger der Sowjetunion, sie kamen aus Polen, Ungarn, Finnland,  Litauen, Rumänien, Jugoslawien, Deutschland, Japan, China und Indien. 51 der 169 in diesem Buch gezeigten Erschossenen waren Kommunisten, fast ein Viertel Frauen. Eine Mutter wurde wenige Tage nach ihrem achtzehnjährigen Sohn, einem Jungkommunisten, erschossen. Beider einzige Schuld bestand darin, der Sohn bzw. die Ehefrau des ehemaligen Volkskommissars Michail Frinowski zu sein, der übrigens seit 1919 ununterbrochen der Tscheka, der GPU und dem NKWD angehörte und als Mitorganisator der sog. «Massenoperationen» des NKWD gegen die «Kulaken» und nationale Minderheiten für unzählige Morde verantwortlich war. Bei Stalin in Ungnade gefallen, wurde Frinowski 1940 hingerichtet, Sohn und Gattin traf wenige Tage später das gleiche Schicksal.

Stalin hatte ohnehin die Angewohnheit, sich nach einer bestimmten Zeit auch seiner exponiertesten Massenmörder zu entledigen. So opferte er den Volkskommissar Jagoda, verantwortlich für die Durchführung des ersten der Moskauer Schauprozesse, nach dessen Verhaftung musste, noch vor ihm, seine Schwester Lilja sterben.

Bedrückend hoch ist die Anzahl junger Menschen, die umgebracht wurden. Der Jüngste, an den das Buch erinnert, war der Student und Jungkommunist Wladimir Wolkow. 1919 geboren, war er gerade mal 18 Jahre alt geworden, als ihn die tödliche Kugel traf. Helene Hartmann, 1906 in Dortmund geboren, Mitglied der KPD und der KPdSU, konnte nach ihrer Emigration in die UdSSR sogar für die Auslandsabteilung des NKWD arbeiten. Das Buch zeigt eine schöne junge Frau, die angestrengt in die Kamera schaut, als ob sie damit begreifen könne, was ihr geschieht. Auch sie wurde 1939 verhaftet, 1940 erschossen.

Prominenten und Namenlose

Nicht nur ganz normale Bürger ereilte dies grausame Schicksal, wie der Titel des Buches assoziiert. Auch Bilder prominenter, weit über die Grenzen der UdSSR bekannter Persönlichkeiten sind darin enthalten: Wsewolod Meyerhold, Leiter des Stanislawski-Musiktheaters in Moskau, und Sergej Tretjakow, Schriftsteller und Journalist, Freund und Lehrer Bert Brechts, in Deutschland bekannt geworden durch seine Bücher über das revolutionäre China. Beide, Meyerhold und Tretjakow, waren offensichtlich gefoltert worden, ihre Gesichter sind von Entbehrungen gezeichnet. Auch sie hat der «Freund der Künste», Jossif Stalin, umbringen lassen.

Brecht, der in weiser Vorausahnung die Sowjetunion als Exilland mied, schrieb 1939 über Sergej Tretjakow:

«Mein Lehrer,
Der große, freundliche,
Ist erschossen worden, verurteilt durch ein Volksgericht.
Als ein Spion. Seine Name ist verdammt.
Seine Bücher sind vernichtet. Das Gespräch über ihn
Ist verdächtigt und verstummt.
Gesetzt, er ist unschuldig?»

Viele der Opfer hatten Kinder, kleine schutzlose Wesen, die unvermittelt dem Vater, der Mutter entrissen und in spezielle Kinderheime gebracht wurden. Eine Seite im Buch ist ihnen gewidmet, auf ihr sind zwanzig traurige Gesichter von Jungs zu sehen, keines trägt auch nur die Spur eines Lächelns oder kindlicher Unbekümmertheit. Die Bilder haben keine Namen, nur Nummern, die wahrscheinlich fortlaufend geschrieben wurden. Das letzte Bild hat die Nummer 25194, aber es ist nicht auszumachen, ob sich das auf die Anzahl der von den Eltern getrennten Kinder bezieht, denn die Bilder stammen aus nur einem Waisenhaus der OGPU.

Volksfeinde

Den Kontrast zu diesen Fotografien bildet die Aufnahme eines NKWD-Hinrichtungskommandos. Fünf Uniformierte machen eine Pause oder warten auf die Opfer, vier von ihnen lächeln in die Kamera, der fünfte, der Ranghöchste, dreht sich eine Zigarette. Ihr blutiges Handwerk scheint sie nicht zu belasten, im Gegenteil: Sie säubern das Vaterland der Werktätigen von Volksfeinden. So hat es ihnen Stalin beigebracht, immer wieder und eindringlich. Aber sie wissen auch, dass aus ihnen beim geringsten Verdacht, beim kleinsten Fehler, ebenfalls «Volksfeinde» werden können. Waren nicht alle Bolschewiki, die sich gegen das Morden aufgelehnt hatten, inzwischen ebenfalls zum Schweigen gebracht worden?

Jeder Linke kennt vermutlich die grauenhaften Bilder der Leichenberge, die der Faschismus hinterließ, schaut man sich aber aufmerksam die Bilder in diesem Buch an, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass es sich, gemessen an den Idealen der Arbeiterbewegung und denen der Revolution von 1917, bei der Durchsetzung des stalinistischen Systems um eine Konterrevolution gehandelt hat.

Derjenige, der davor gewarnt hatte, war aus der Partei ausgeschlossen, gedemütigt, außer Landes gebracht und um die halbe Welt gejagt worden. Im August 1937, also zur gleichen Zeit, in der ein großer Teil dieser Bilder entstand, schrieb der hellsichtige Leo Trotzki im Exil:

«Niemand, Hitler inbegriffen, hat dem Sozialismus so tödliche Schläge versetzt wie Stalin. Das ist auch nicht verwunderlich: Hitler hat die Arbeiterorganisationen von außen attackiert, Stalin von innen. Hitler attackiert den Marxismus, Stalin attackiert ihn nicht nur, sondern prostituiert ihn auch. Nicht ein ungeschändetes Prinzip, nicht eine unbefleckte Idee sind übrig geblieben. Selbst die Worte Sozialismus und Kommunismus sind grauenhaft kompromittiert, seit wildgewordene Gendarmen unter der Titulatur ‹Kommunisten› ihr Gendarmenregime Sozialismus nennen. Eine abscheuliche Lästerung! Die GPU-Kaserne ist nicht das Ideal, für das die Arbeiterklasse kämpft.»

Die Öffnung der Archive hat diese Einschätzung Trotzkis bestätigt.

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