Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2013
Gilbert Achcar über die Interessen der ausländischen Mächte in Syrien

Weil die demokratische Opposition im Ausland keine Unterstützung findet, gewinnen Extremisten die Oberhand und der Diktatur wird der Rücken gestärkt.

Vor zehn Jahren haben die USA Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein herbeigezogen, um eine militärische Invasion des Irak zu rechtfertigen. Heute gibt es Anzeichen dafür, dass das Assad-Regime Giftgas gegen Aufständische einsetzt, Obama hat das als eine «rote Linie» bezeichnet, aber seine Regierung unternimmt alles, um eine Militärintervention zu vermeiden. Wie kommt dieser Umschwung zustande?

Die Existenz von Massenvernichtungswaffen sind Vorwände für Militärinterventionen der USA, ihre Gründe liegen in ihren Interessen. Hinsichtlich der Interessen gibt einen großen Unterschied zwischen den USA zur Zeit von George W. Bush und der von Obama: Als Bush 2002/2003 die Invasion im Irak vorbereitete, sahen sich die USA auf dem Gipfel ihrer Macht und dachten, sie könnten sich alles erlauben. Aber die Besetzung des Irak endete in einem Desaster, sie blieb in einem Morast stecken, auf den alsbald die Niederlage folgte.

Die Entscheidung, sich aus dem Irak zurückzuziehen, wurde schon in der Endphase der Regierung Bush getroffen und von Obama ab 2011 ausgeführt. Offiziell ist die Intervention beendet, die amerikanische Militärpräsenz im Irak wurde stark zurückgefahren, und die USA haben die Kontrolle über den Irak verloren. Der Iran hat heute viel größeren Einfluss auf die irakische Regierung als die USA. Die US-Regierung hat keines der Ziele erreicht, die sie sich zum Zeitpunkt der Invasion gesteckt hatte, diese Ziele waren: eine langfristige Präsenz im Land, Institutionen nach ihrem Geschmack und eine irakische Regierung unter ihrer Kontrolle, die zugleich ein Schaufenster des Neoliberalismus und der «Demokratie» nach amerikanischem Muster sein sollte.

Die Niederlage ist enorm, mindestens so bedeutend wie die in Vietnam. Und sie ist zu einem Zeitpunkt eingetreten, wo die USA 2007/2008 in eine Wirtschaftskrise geraten sind, die natürlich das kapitalistische Weltsystem erfasst, aber vor allem die USA geschwächt hat, während ihre Rivalen, Russland und China, eine solche Krise nicht erlebt haben. Die globale Position der USA in der Welt ist deshalb deutlich schwächer als vor zehn Jahren. Trotz der Tatsache, dass Chemiewaffen in Syrien eingesetzt werden, sind die USA heute nicht in der Lage und nicht willens, militärisch zu intervenieren.

Aber es sei noch einmal betont: Es sind nicht die Chemiewaffen, die die Invasion im Irak veranlasst haben. Als Saddam Hussein 1988 Chemiewaffen gegen die Kurden einsetzte, gab es keine militärische Intervention der USA gegen ihn. Er später, als es diese Waffen nicht mehr gab, hat man aus ihnen einen Vorwand gemacht, um den Irak zu besetzen.

Von außen hat man den Eindruck, dass die USA, im Gegensatz zu Russland, nicht wissen was sie in Syrien eigentlich wollen. Was sind ihre Interessen? Welche Lösung streben sie an? Auf wen stützen sie sich dabei?

Sie wissen genau, was sie wollen, nur ist das, was Russland will, einfacher zu verstehen. Moskau will den Erhalt des Regimes auf der Grundlage eines Sieges des Regimes – es wäre auch ein Sieg für Moskau. Moskau sieht in der Bekämpfung des Aufstands durch das syrische Regime die Verteidigung des letzten arabischen Staates, der enge Beziehungen zu Russland unterhält und ihm u.a. eine Militärbasis einräumt.

Die USA sind in einem Punkt mit Russland einverstanden: Auch sie wollen den Erhalt des Regimes, aber auf der Grundlage eines Kompromisses mit einem Teil der Aufständischen, dessen Kern der Rücktritt von Bashar al-Assad wäre. Das könnte nach einem, wenn auch sehr begrenzten, Erfolg der Aufständischen aussehen.

An dieser Stelle wird die Sache kompliziert, weil die USA den Aufstand nicht unterstützen und auch seinen Sieg nicht wollen. Das wird sehr deutlich, wenn man ihre Politik seit Beginn des Aufstands an betrachtet: Die US-Regierung stand diesem nicht nur immer sehr misstrauisch gegenüber, sie hat auch von Anfang an deutlich gesagt, dass sie den Erhalt des Staates wünscht und mit dem Gros des Regimes eine Übereinkunft sucht. Der einzige Preis dafür wäre ein Rücktritt Assads, aber auch dies war am Anfang nicht klar, die US-Regierung hat einige Monate gebraucht, um sich hinter diese Forderung zu stellen. Warum?

Zum einen gibt es das, was sie die Lehren aus dem Irak nennt: Die US-Regierung meint, sie habe einen großen Fehler gemacht, als sie zum Zeitpunkt der Invasion den Baath-Staat auflöste. Das hat Chaos im Land geschaffen. Dafür haben die USA einen Preis bezahlt, die Situation ist ihnen außer Kontrolle geraten, darüber hinaus aber wurde die gesamte Region destabilisiert und ihre Geschäfte wurden gefährdet.

Sie wollen also nicht, dass sich dies in Syrien wiederholt. Vor einigen Monate hat Obama deshalb erklärt: Wir sind für eine jemenitische Lösung. Im Jemen hat es infolge der Protestbewegung 2011 einen Kompromiss mit den Saudis gegeben: Sie haben auf den jemenitischen Präsidenten eingewirkt, dass er seinen Stuhl räumt. Das hat er getan, aber die wichtigsten Stützen seiner Macht behalten. Etwas Ähnliches schwebt Obama auch in Syrien vor.

Ich bin ganz und gar nicht überrascht von Washingtons jüngstem Schritt – den manche eine Wende genannt haben –, nämlich das Einverständnis mit Russland, eine Konferenz einzuberufen, um eine Kompromisslösung für Syrien herbeizuführen. Es gibt zwischen Moskau und Washington einen breiten Konsens, das Regime zu erhalten. Der Unterschied liegt in der Behandlung der Person Assad, der sich durch diese Konstellation – die Weigerung der USA, den Aufstand zu unterstützen, während der Iran und Russland dem Regime tatkräftig helfen – bestätigt sieht. Er stellt sich nun auf die Hinterbeine, auch  weil seine Umgebung befürchtet, dass dieses eine Zugeständnis nicht reichen wird, sondern eher eine Dynamik in Gang setzen kann, die für das Regime fatal werden könnte.

Angesichts der Zersplitterung der Opposition wäre für Assad sogar ein Kompromiss denkbar, der auf Neuwahlen zum Staatspräsidenten hinausläuft, bei denen Assad wieder antritt; sein Umfeld meint, er hätte eine Chance diese Wahlen zu gewinnen, weil die Opposition gespalten ist.

Die Aufständischen haben eine klare Haltung: Kein Kompromiss ohne den Rücktritt von Assad, nach 100.000 Toten ist das verständlich, das gab es im Jemen nicht.

Anfang Mai hat es Massaker an zwei Küstenorten, al-Bayda und Banyas, gegeben. Sie wurden maßgeblich von Einheiten der Hizbollah verübt. Beobachter sagen, dass Assad sich ohne die Unterstützung von Kämpfern der Hizbollah und ohne die Waffen aus dem Iran bzw. aus Russland nicht mehr halten könnte. Was bedeutet das?

Mehr noch als Russland ist der Iran am Fortbestehen des Assad-Regimes interessiert. Iran hat eine Achse aufgebaut, die reicht von der Hizbollah im Süden über Damaskus und Bagdad bis Teheran. In dieser Achse ist Syrien ein Schlussstein, wenn das Regime hier fällt, bricht auch die Nabelschnur zwischen dem Iran und der Hizbollah. Der Iran finanziert das syrische Regime und rüstet es militärisch auf, die Hizbollah beteiligt sich an militärischen Offensiven wie jüngst in Al Qusair an der Grenze zum Libanon; es scheinen auch iranische Truppen in Syrien zu operieren.

Es gibt Beobachter, die sagen, sowohl Russland als auch der Iran würden auf eine Ethnisierung des Konflikts und die Teilung des Landes hinarbeiten, um eine Region an der Küste zu schaffen, die militärisch von den Alewiten und dem Assad-Clan kontrolliert würde. Sind das Spekulationen oder ist das eine reale Gefahr?

Das ist reine Spekulation. Vom Regime gibt es keine Äußerung, die in diesem Sinne ausgelegt werden könnte. Es scheint entschlossen, auf der ganzen Linie zu siegen und seine Kontrolle über das gesamte Territorium aufrechtzuerhalten, es meint, dass es alle Pfunde dafür in der Hand hält. Das Regime ist sich sicher aber auch bewusst, dass nichts geregelt wäre, wenn es den Versuch unternähme, einen Staat auf rein konfessioneller, und damit minoritärer, Grundlage zu schaffen. Der Krieg würde weiter gehen. Es wäre ausgeschlossen, dass die anderen das hinnehmen. Dieser Krieg kann nicht durch eine Teilung des Landes gelöst werden.

Ein anderer Kriegsteilnehmer sind die Golfstaaten, sie unterstützen islamistische bewaffnete Einheiten. Welche Rolle spielen sie?

Die Golfstaaten unterstützen offiziell die gesamte Opposition. Ihr Einfluss auf die Opposition wird dabei übertrieben, um an ihrer Spitze Personen durchzusetzen, die im Interesse der Golfstaaten agieren. Die Saudis sind über den syrischen Aufstand aber auch sehr beunruhigt, denn eine demokratische Rebellion gegen die Diktatur kann auch in ihrem eigenen Land ansteckend wirken. Die größte Gefahr für die Saudis geht von der Demokratiebewegung aus. Sie parieren sie, indem sie den Konflikt als einen konfessionellen darstellen: Schiiten oder Alewiten gegen Sunniten, das haben sie schon im Irak getan. Das ist ihre Art, den syrischen Aufstand zu ersticken, indem sie seinen demokratischen Charakter unterdrücken und ihn zu einem Konfessionskrieg umdeuten. Daraus folgt materielle Hilfe der Wahhabiten und Saudis an Gruppen, die ideologisch auf einer Linie mit ihnen liegen. Selbst Kämpfer von Al Qaeda sind nach Syrien gekommen, sie bilden eine Art internationale salafistische Brigade, wie sie auch in Afghanistan und im Irak aufgetaucht ist. Sie bekommen Geld von wahhabitischen Kreisen in Saudi-Arabien.

Dass die islamistische Opposition erstarkt, hat der Westen direkt zu verantworten, weil er die laizistische, demokratische Opposition, die anfangs dominierte, trotz heuchlerischer Behauptungen, auf ihrer Seite zu stehen, nicht unterstützt und das Regime dadurch passiv gestützt hat. Auf diese Weise konnten die Islamisten sich in den Vordergrund spielen auf Kosten derer, die den Aufstand begonnen haben. Die Fundamentalisten haben nicht dieselben Mittel zur Verfügung wie der Staat, aber gegenüber den anderen Kräften der Opposition sind sie privilegiert. Die demokratische Opposition ist auf tragische Weise allein gelassen, während die Islamisten Unterstützung bekommen und ausländische Mächte das Regime unterstützen. Das ist die Tragödie, die heute in Syrien passiert.

Könnten sich die Islamisten mit dem Regime verständigen?

Nicht über eine konfessionelle Lösung. Der Kompromiss, den die USA, Qatar und Saudi-Arabien suchen, ist einer, der die offiziellen Vertreter der Opposition einbindet, vor allem Qatar legt Wert darauf, dass die Muslimbrüder dabei sind. Die Saudis verhalten sich eher beobachtend, bei ihnen sind es die Wahhabiten, die die radikalen Fundamentalisten unterstützen. Was alle Herrschenden eint, ist die Angst vor der Revolution und vor wahrer Demokratie.

Die demokratische Opposition kann also in keine der Mächte Vertrauen haben, die in Syrien intervenieren, und ist letzten Endes allein auf die eigene Kraft angewiesen. Welche Chancen gibt es dann für den Aufstand?

Das ist schwer zu sagen, weil wir mitten im Bürgerkrieg sind. Man hätte sich wünschen können, dass die Lokalen Koordinationskomitees die Oberhand behielten und nicht Aufgaben an selbsternannte Führer im Ausland delegierten. Man hätte sich wünschen können, sie hätten verstanden, dass ein Regime, wie das von Assad, sich nicht mit friedlichen Mitteln stürzten lässt wie in Tunesien oder Ägypten. Dann hätten die Ereignisse vielleicht einen anderen Lauf genommen.

Es bleibt also nur zu hoffen, dass das Regime stürzt. Das würde die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich eine fortschrittliche politische Kraft herausbildet, es gibt dafür ein interessantes Potenzial. In Syrien ist das Gewicht der Muslimbrüder viel geringer als in Ägypten, dafür gibt es eine linke Tradition und eine bedeutende fortschrittliche Politisierung der Bevölkerung. Die Frage ist nur: Zu welchem Preis stürzt das Regime? Aber weil der Preis jetzt schon so hoch ist, gibt es auch keine Möglichkeit der Koexistenz.

Leistet die arabische Linken in den Nachbarländern praktische Unterstützung für die syrischen Aufständischen?

Die arabische Linke ist über den Bürgerkrieg gespalten. Mehrheitlich unterstützt sie den syrischen Aufstand. Die linksnationalistischen Kräfte sehen darin allerdings nur einen imperialistischen Komplott und unterstützen de facto das Assad-Regime. Unsicherheit verbreitet das Auftreten der Fundamentalisten. Es gibt die Tendenz, die religiösen Fundamentalisten als Nazis oder Faschisten zu beschimpfen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass jeder Bündnispartner gegen die «Faschisten» recht ist. In Algerien hat das z.B. dazu geführt, dass ein Teil der Linken 1992 den Staatsstreich der Militärs gegen die Islamische Heilsfront unterstützt hat. Auf der anderen Seite stehen die Linken, die die Fundamentalisten für eine Gefahr halten, den Hauptgegner aber in ihrem jeweiligen, repressiven Regime sehen.

Gilbert Achcar unterrichtet Entwicklungsstudien und internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies der Londoner Universität. Auf deutsch erschien von ihm zuletzt Die Araber und der Holocaust (Edition Nautilus).

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