Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2013
Die gezielte Tötung als neue Form von Krieg und Bürgerkrieg – Teil 3 und Schluss: Drohne und Ausnahmezustand
von Wolfgang Ratzel

Stell dir vor, du bist ein Systemfeind und liegst im Bett, kuschelig, warm und träumst halbwach in der Dämmerung des neuen Tages. Da kracht die Tür aus dem Rahmen, wooooaammm!! «Polizei! Polizei!» Aus dem Dunkeln erscheinen vermummte Gestalten: «Keine Bewegung!» «Hände auf die Decke!» «Wir wollen deine Hände sehen!» Kreuzweise sind Maschinenpistolen auf dich gerichtet. Du legst die Hände auf die Decke. Der erste Vermummte reißt dich aus dem Bett, verdreht dir die Arme, Handschellen klicken. Dein Kopf ist zur Erde gewandt. Einer bückt sich und hält dir ein Papier vor deine entsetzten Augen, du liest:

«Gestützt auf Art.48 der Verfassung wird zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und zur Abwehr staatsgefährdender Gewaltakte verordnet: Die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Verfassung werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig.»

Sie stülpen dir eine Maske über, du keuchst die Worte: «Ich will meine Rechtsanwältin anrufen!» Du hörst, wie sie hinter ihren gestrickten Gesichtsmasken brüllend loslachen: «Hahaha – die Hoffnung stirbt zuletzt!» «Ausnahmezustand!», durchzuckt es dein Hirn. Dann schleppen sie dich hinaus auf die Straße und werfen dich in einen Gefangentransporter, der Motor heult auf, du wirst entführt und weißt auch, wohin.

Normalzustand und Ausnahmezustand

Die geschichtskundige Leserschaft ahnt, dass hier – zum Zweck der Veranschaulichung des Unterschieds zum Hier und Heute – eine Rückblende geschieht: Zurück zum 28.Februar 1933, an dem die «Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat» noch am selben Tag Gesetzeskraft erhielt. Damals endete die Fahrt in den Folterkammern der SA: in Scheunen, Kellern von Polizeirevieren – allesamt Provisorien, die am 22.März 1933 mit der Einlieferung in das erste KZ, Dachau, enden. Das Lager wurde zum Raum, wo der Ausnahmezustand exekutiert und auf Dauer gestellt wurde.

Man darf niemals vergessen, dass der Ausnahmezustand ein verfassungsgemäßer Zustand des Staates ist. Der Artikel 48 der Weimarer Verfassung war eine Frucht der Novemberrevolution. Damals waren die zwei Zustände der bürgerlichen Rechtsordnung klar voneinander getrennt: Hier ein Zustand der Sicherheit und Ordnung, der die Freiheitsrechte der Bürgerschaft garantierte, dort ein Zustand der Not, der sie auf unbestimmte Zeit suspendierte. Hier der verfassungsgemäße Normalzustand des Staates; dort der verfassungsgemäße Ausnahmezustand des Staates (wobei die kritische Leserschaft weiß, dass es immer schon um die Sicherheit und um die Not der kapitalistisch-technischen Verhältnisse und deren Machtzentren ging).

Ebenso eindeutig unterscheidbar war der Krieg vom Frieden. Um dieser Klarheit willen musste der Ausnahmezustand «ausgerufen» und «aufgehoben» werden – musste der Krieg «erklärt» und der Frieden «geschlossen» werden. Selbst Hitler sah sich gezwungen, den Überfall auf Polen zu «erklären». Man konnte sich nach Normalität und Frieden sehnen.

Der «tiefe Staat»

Das alles ist Schnee von gestern. Heute gibt es keinen Frieden mehr, in den nicht in jeder Sekunde der Terror einbrechen könnte, ebenso kann sich jeder Normalzustand augenblicklich in einen Ausnahmezustand verwandeln. Ausnahme und Regel koexistieren ebenso neben- und miteinander wie Krieg und Frieden; die ersteren verdeckt, aber allzeit bereit zum Ausbruch durch die Oberfläche der Normalität und des Friedens.

Diese neue Form von Staatlichkeit heißt im Türkischen «derin devlet», tiefer Staat: Unterhalb der Oberfläche der Rechtsstaatlichkeit vernetzt sich eine unsichtbare Parallelstruktur aus Geheimdiensten, Sondereinsatzkommandos und informellen Verbindungen zu Regierung, Wirtschaft, Medien, Parteien, getragen von einem Konsens, der besagt, dass die bestehenden Machtzentren und Verhältnisse um jeden Preis erhalten und optimiert werden müssen. Obschon formal eingebunden in die Verfahren der repräsentativen Demokratie, wirken diese Netzwerke autonom jenseits jeder Kontrolle. (Herbst-77-Geschädigte werden nie vergessen können, wie schnell und effektiv sich dieser informelle Konsens zeigen kann; auch die Nichtverfolgung des NSU könnte so erklärt werden.)

Die Zeit siegreicher revolutionärer Massenaufstände und Volkskriege ist vorbei. Die Overkillfähigkeit der imperialistischen Zentren zwingt jedem Aufstand eine asymmetrische Kriegführung auf, die sich auf kleine Waffen, geheime Strukturen, Kleingruppen, Hinterhalte und die Aufopferungsbereitschaft der Aufständischen stützt. Wer sein Leben in die Luft sprengt, wird unangreifbar. Der Opfertod aus dem Hinterhalt oder im direkten Angriff unterläuft die Overkillfähigkeit der Imperialismen.

Die Herrschaftszentren antworten darauf seit langem mit einer Re-Symmetrisierung des Krieges: Der reguläre Militärapparat gliedert geheime Verbände aus, die so kämpfen, als ob sie Aufständische wären – geheim, in Kleingruppen, irregulär im permanenten Ausnahmezustand, aber ohne Risiko des Opfertods. Die Risikolosigkeit garantiert die Drohne. Als Antwort auf den Sprengstoffgürtel wird sie zur Idealwaffe des Schattenkriegs. Die Parallelstruktur des tiefen Staats entspricht der Parallelstruktur der terroristischen Netzwerke.

Der Operationsraum der Drohne ist die Luft, nicht der Boden. Von hier aus sieht sie alles, was sie sehen kann und will. Sie filtert das Gesehene gemäß Parametern, die allein der Sicherung und Steigerung der Machtzentren dienen. Das Wesen der Drohne ist, dass sie das Gesehene augenblicklich liquidieren kann.

Das Auge der Drohne ist unbestechlich. Sie sieht ideologiefrei und ohne rassistische und sexistische Ressentiments. Sachlich registriert sie das Verhalten des Verdächtigen. Sie vergleicht es (wie er geht und steht, wen er trifft und wo) mit den einprogrammierten Mustern von «abnormalem Verhalten». Sie gleicht ab und komplettiert sein Profil, Tag für Tag, Woche für Woche. Verbleibt ein Rest von Unsicherheit, komplettiert sie weiter. Die rote Linie wird erreicht, wenn festgestellt ist, dass der Verdächtige (der auch Staatsbürger sein kann) in letzter Zeit in Aktivitäten verwickelt war, die einen Anschlag vorbereiten könnten. Dann drückt der Drohnenpilot auf den Knopf: Finish!

Summa: Die Exekutive maßt sich das Recht an, «jedermann irgendwo auf der Welt jederzeit zu töten, aus Geheimgründen, die auf Geheimbeweisen beruhen, die in einem Geheimprozess von unbekannten Beamten gewonnen wurden», – sagt Rosa Brooks, die es als Insiderin der Obama-Regierung wissen muss.

Totale Demokratie und totaler Ausnahmezustand

In dieser Koexistenz zwischen dem sichtbaren Normalzustand und dem unsichtbaren Ausnahmezustand entwickelt sich hier und heute ein geradezu kafkaeskes Szenario. Denn im Schutz der Drohne kann der Staat demokratische Verfahren wollen und garantieren, kann Debatten ermutigen, Volksentscheide gutheißen: Du sollst deine Meinung sagen! Du sollst dich einmischen! Du sollst Verantwortung für deinen Kiez übernehmen. Ja!, demonstriere für dein Recht! Zeige dich und gehe auf die Straße! Ja!, petitioniere beim Bundestag! Unterschreibe die Avaaz-, Campact-, Change-Petitionen.

Alle Welt soll sich aussprechen, auf tausenden Kongressen, in Talkshows. Alle Welt blogt, twittert und chattet, simst, facebookt. Noch nie wurden so viele Schritte demonstriert und so viele Worte geschrieben und gesagt, gigantische Schrittmengen – wirkungslos, Wortblasen, die vergessen sind, bevor sie gesagt werden. Denn die Sphäre der Herrschaftszentren hat sich abgekoppelt von der Sphäre des kommunikativen Handelns. Lasst die kommunizieren, soviel sie wollen; wir machen das, was unserer Sache dient.

(Fast) alles geht! – aber eines geht nicht: Du darfst nicht das Funktionieren der Regeln und Verfahren zur Machterhaltung und Machtsteigerung der Herrschaftszentren angreifen. Wer dies dennoch tut, wird erbarmungslos vernichtet – egal, ob Bürger oder Immigrant, ob islamistischer oder säkular-weltanschaulicher Aufständischer. Und je komplexer diese Funktionszusammenhänge wuchern, desto gnadenloser werden die «Störer» vernichtet. Solange du redest, kommunizierst und demonstrierst, lächelt die Rechtsordnung dir aufmunternd zu. Wenn du angreifst und zum Hindernis wirst, wartet auf dich – in memoriam Bradley Manning und Julian Assange – der Hochsicherheitstrakt oder die Todesstrafe.

Die große Freiheit endet dort, wo der Wille zum Tun erwacht, der die Tat vorbereitet und durchführt. Dieses Kontinuum ist die Grenze zwischen deiner Behandlung als kritischer Kritiker oder ungesetzlicher Kombattant, als achtenswerte Freiheitskämpferin oder absoluter Feind, als Mensch oder un-menschlicher Verbrecher. Es ist die Grenze zwischen Gefängnis und Hochsicherheitstrakt, zwischen Tegel und Guantánamo.

Diese Grenze bewacht die Drohne. Sie sieht, wann und wo dein Tat-Wille zur Vorbereitung wird, wann und wo aus der Vorbereitung die feindliche Tat entspringt. Und irgendwann erwachst du nach einer lauen Sommernacht und blinzelst in etwas, das aussieht wie ein Spielzeughelikopter, feingliedrig, winzig, putzig, mit vier leise sirrenden Kleinstrotoren; lustig rot-gelb gestreift; mit zwei winzigen röhrchenhaften Öffnungen, die an einen Mund erinnern, der dir etwas mitteilen will, nämlich dass du jetzt sterben wirst. Und niemand wird je erfahren, wer dich tötete und warum und wofür du gestorben bist.

Die Düsternis, Trost- und Hoffnungslosigkeit der gegenwärtigen Zukunft des Widerstands schreit geradezu nach einer Fortsetzung mit der Frage, ob vielleicht trotz alledem ein Happy-End möglich sei? Hat die Allmacht technisch-kapitalistischer Verhältnisse eine Achillesferse? Kann die Drohne unsere große Freundin werden?

Wolfgang Ratzel verantwortet das Autonome Seminar an der Humboldt-Universität zu Berlin. Kritik und Zustimmung an die SoZ und an: wolfgang.ratzel@t-online.de

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