von Arno Klönne
Den «Verfassungstag» der Bundesrepublik haben wir wieder einmal hinter uns, unauffällig, diesmal zugleich als Termin, den die SPD zu ihrem einhundertfünfzigsten Geburtstag erklärt hat. Gründer dieser Partei war demnach Ferdinand Lassalle: in dem von ihm hinterlassenen Angebot für Leitsprüche ist auch die von Linken gern zitierte Aussage zu finden: «Verfassungsfragen sind keine Rechtsfragen, sondern Machtfragen.»
So simpel, wie dieser Satz verstanden werden kann, war er nicht gemeint, sein Urheber hatte durchaus Sinn für den Stellenwert rechtlicher Normen in gesellschaftlichen Konflikten. Im Diskurs der westdeutschen Linken, in den Zeiten der Altbundesrepublik, war es vor allem Wolfgang Abendroth, der die Bedeutung des «Kampfes um Verfassungspositionen» hervorhob, konkret u.a. in der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze.
Als 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik verkündet wurde, war es in zweifacher Hinsicht Ausdruck der damaligen politischen Kräfteverhältnisse: Erstens war es das konstituierende Dokument für die westdeutsche Teilstaatlichkeit, wie sie von den westlichen
Besatzungsmächten gewollt wurde und an der die Machteliten im westlichen Deutschland damals stark interessiert waren. Allerdings scheuten die westdeutschen Politiker vor dem Begriff «Verfassung» zurück, weil er nach teilstaatlicher Endgültigkeit klang; in der Präambel hieß es denn auch, nur für eine «Übergangszeit» solle das Grundgesetz gelten. Demnächst, so die Verheißung, könne sich das gesamte deutsche Volk «in freier Selbstbestimmung» eine neue Verfassung geben. Daraus wurde allerdings nichts, als es nach langen Jahren des «Provisoriums» zur staatlichen Einheit Deutschlands kam, das westdeutsche Grundgesetz wurde vielmehr 1990 in seinem Geltungsbereich um Ostdeutschland erweitert.
Volkssouveränität?
Wie stand es 1949 um die «Volkssouveränität», aus der eine demokratische Verfassung hervorgehen soll? Die Besatzungsmächte hatten auf den Inhalt des Grundgesetzes erheblichen Einfluss genommen, und sie behielten Eingriffsrechte gegenüber der Politik der Bundesrepublik. Souverän war dieser deutsche Staat erst einmal nicht. Und dem Volk wurde Souveränität nicht zugetraut. Experten fertigten einen Entwurf des Grundgesetzes an, Abgesandte der Länderparlamente bearbeiteten und beschlossen ihn, und die Parlamente der Bundesländer segneten ihn ab, ausgenommen das bayerische, aber zur Bundesrepublik gehören wollte der Freistaat dann doch. Eine Verfassungsdebatte im Volk fand nicht statt, eine Volksabstimmung über das Grundgesetz auch nicht.
Insofern war die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes nicht gerade geeignet, «verfassungspatriotische» Gefühle hervorzubringen. Immerhin wurden in der «Übergangsverfassung» endlich Grundrechte festgeschrieben und für nicht abschaffbar erklärt, die schon beim gescheiterten Versuch einer bürgerlichen deutschen Revolution 1848/49 angezielt gewesen waren, aber nicht durchgesetzt werden konnten, weil der König Preußens wußte: «Gegen Demokraten helfen nur Soldaten».
Die Grundrechte von 1949 gelten nach wie vor, freilich bedürfen sie stetig der Konkretisierung, sie sind so oder so ausdeutbar, was heißt: Lebenspraktisch erhalten sie ihren Wert in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, und keineswegs kann man sich dabei mit der Erwartung zur Ruhe setzen, das Bundesverfassungsgericht werde schon seines Wächteramtes walten. Das Grundgesetz hat seinen Kernbestand, den die Legislative auch mit Zweidrittelmehrheit nicht verändern oder beseitigen darf, ansonsten aber ist es wandlungsfähig.
Von der Möglichkeit, Verfassungsnormen neu zu fassen oder zu ergänzen, ist in der Geschichte der Bundesrepublik fleißig Gebrauch gemacht worden, dabei bedeutet Novellierung keineswegs unbedingt Verbesserung. Ganz substanziell zeigt sich das in Sachen Militärpolitik, wobei hier die «normative Kraft des Faktischen» zu neuen Normierungen im Grundgesetz drängte und diese auch erreichte; das Bundesverfassungsgericht fügte sich in diese «Enttabuisierung des Militärischen» ein. So wurde die Bundesrepublik zu einem Staat, der «Landesverteidigung» am Hindukusch betreibt.
Die ökonomischen Grundlagen
Entscheidend waren hier «Machtfragen», also ökonomische Interessen und der Wille der politischen Klasse, doch «Rechtsfragen» mussten dazu passend beantwortet werden, Verfassungsrichter durften nicht in die Quere kommen. Nebenbei bemerkt: Was in den Köpfen von Juristen vor sich geht, ist für die politische Entwicklung keineswegs ohne Bedeutung; die Linke wäre töricht, wollte sie sich um das gesellschaftliche Bewusstsein dieses «Standes» und auch um den Diskurs in der Rechtswissenschaft nicht kümmern.
Was die soziale und ökonomische Ordnung angeht, so drückt sich im Grundgesetz das damalige Kräfteverhältnis im Konflikt der Klassen als formelhafter Kompromiss aus. Die Bundesrepublik wird – nicht revidierbar – als «Sozialstaat» definiert, aber es wird offen gelassen, was aus diesem Prinzip folgt. Privatem Eigentum wird Schutz versprochen, jedoch soll es dem «Allgemeinwohl» dienen. Sozialisierungsgebote, die in einigen frühen Verfassungen der Länder in den westlichen Besatzungszonen noch enthalten waren (in NRW sogar noch in die Verfassung von 1950 Eingang fanden), sind im Grundgesetz nicht mehr zu finden, aber die Möglichkeit der «Vergesellschaftung» von Produktionsmitteln, von Grund und Boden oder «Naturschätzen» ist dort grundrechtlich verbürgt (was Berichterstattern des Verfassungsschutzes offenbar kaum bekannt ist). Ein «markt»-wirtschaftliches System schreibt das Grundgesetz, anders als weitverbreitete Legenden es wollen, nicht vor.
Fazit: Die Grundsätze der Verfassung der Bundesrepublik halten den normativen Raum offen für eine demokratische Alternative zur kapitalistischen Ökonomie. Das klingt erfreulich für die Linke, wirft aber die Frage auf: Welche Reichweite hat solch ein Grundgesetz in der Gegenwart politischer Normen?
Seit 1949 hat die Einbindung der Bundesrepublik in europäische und nordatlantische Vertragswerke und Institutionen auch die Rechtslage drastisch verändert. Zur Zeit ist zu beobachten, wie Zirkel europäischer Regierungschefs, EU-Kommission, Europäische Zentralbank. Internationaler Währungsfond und andere «Entscheidungsträger» immer mehr zwingende Normen setzen, die den nationalstaatlichen Verfassungen den Boden entziehen. Grundrechtlich fixierte Normen wie «Demokratie» und «Sozialstaat» erweisen sich als ziemlich hilflos gegenüber dieser Entwicklung, hierzulande musste das Bundesverfassungsgericht das apathische Parlament an seine Rechte erinnern. Die «neue Unübersichtlichkeit» in der rechtlichen Regelung von Politik wirkt dahin, demokratische Einflussnahme zu erschweren. Jenseits der Sphäre des Verfassungsrechts nimmt der internationale Finanz-«Markt» als Mystifikation kapitalistischer Herrschaft eine Souveränität für sich in Anspruch, von der die «Väter des Grundgesetzes» noch keine Vorstellung hatten, Karl Marx gehörte nicht zu ihrem Lektürebestand.
Der bundesrepublikanische «Verfassungstag» hat angesichts der gegenwärtigen Machtverhältnisse etwas Museales. Nicht ins Museum gehört die Einsicht, dass Bewegungen, die soziale und politische Emanzipation zum Ziel haben, die Auseinandersetzung auch um «Verfassungsfragen» führen müssen.
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