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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2013
«Die Altenpflege braucht Zuwanderung»*

Die Behauptung

«Wir brauchen Zuwanderung, auch wenn das allein die Probleme in der Pflege nicht lösen wird.» (Gesundheitsminister Daniel Bahr gegenüber der Welt am 21.4.2013.)

Mit nur 38 Erwerbslosen auf 100 offene Stellen (März 2013) ist der Altenpflegeberuf laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) der Mangelberuf Nr.1.

30.000 Fachkraftstellen könnten nach Angaben des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) sofort besetzt werden. Die zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der BA sucht daher weltweit nach Pflegefachkräften. Gesundheitsminister Daniel Bahr fordert angesichts des Pflegenotstands eine deutliche Lockerung der Zuwanderungsregeln für ausländische Kräfte. Unterdessen eröffneten die Ruhr Nachrichten am 1.4.13 ein Online-Forum unter der Leitfrage: «Warum wollen nur so Wenige in der Pflege arbeiten?»

Die Widerlegung

Es mangelt weniger an Fachkräften, als an Vollzeitstellen.

Tatsächlich ist der langjährig diskutierte Fachkräftemangel in der Altenpflege gänzlich hausgemacht. Eine Hauptursache ist die übermäßige Ausweitung von Teilzeitstellen. Ohne die Pflegeberufe arbeiteten im Gesundheitswesen 2009 27,1% der Beschäftigten Teilzeit, von den weiblichen Beschäftigten 38,2%. Bei den examinierten Kräfte in der Altenpflege bewegten sich die Teilzeitquoten jedoch zwischen 49% (stationär) und 67,7% (ambulant), Tendenz steigend. Je mehr qualifizierte Köpfe mit reduzierter Arbeitszeit eingesetzt werden, umso mehr Köpfe werden gebraucht.

Die enormen Teilzeitquoten gehen einerseits auf kostensenkende Flexibilisierungsstrategien der Pflege-Arbeitgeber zurück. Andererseits «flüchten» Pflegekräfte vor den belastenden Arbeitsbedingungen in die Teilzeit. Ursache der schlechten Arbeitsbedingungen ist die anhaltende Weigerung der großen Kostenträger (Sozialhilfeträger, Pflege- und Krankenkassen) – die die Vergütungssätze der Einrichtungen mit aushandeln –, eine angemessene Personalausstattung zu finanzieren.

Seit Jahren wird zu wenig ausgebildet. Dies hat mehrere Gründe:

– Von der BA finanzierte Umschulungen haben früher maßgeblich zum Ausbildungsvolumen beigetragen. Seit 2005 darf die BA Umschulungen aber nur noch maximal zwei Jahre fördern. Die Umschüler müssten also ein volles Jahr selbst bezahlen (wovon?). Deshalb ging das Ausbildungsvolumen massiv zurück. Trotz der aktuellen Mangeldiskussion will die Bundesregierung dennoch nur Umschulungen dreijährig fördern, die bis Ende 2015 beginnen, und dies auch nur als befristete Ausnahmeregelung.

– Ambulante Dienste bieten meist gar keine Ausbildungsplätze an. Die Pflegeheime refinanzieren die Kosten der praktischen Ausbildung (die Ausbildungsvergütung) über die Preise, die sie ihren BewohnerInnen in Rechnung stellen. Wer viel ausbildet, riskiert preisliche Wettbewerbsnachteile am Pflegemarkt. Auch die großen Kostenträger suchen das Ausbildungsplatzangebot eher zu drücken. Nur wenige Bundesländer, wie NRW, haben bislang eine Umlagefinanzierung für die Ausbildungskosten eingeführt.

– In manchen Bundesländern wird bei den Auszubildenden immer noch «Schulgeld» für die theoretische Ausbildung kassiert, am weitesten verbreitet ist dies in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein. Nur in sechs Ländern, darunter NRW, ist das Schulgeld ganz abgeschafft.

– Wird kein Schulgeld erhoben, trägt das Land die Kosten der Altenpflegeschulen. Die dafür verfügbaren Haushaltsmittel reichen aber oft bei weitem nicht aus, um allen geeigneten Ausbildungsbewerbern einen Schulplatz zur Verfügung zu stellen. Als NRW 2012 (wieder) eine Ausbildungsumlage einführte, stockte es die Mittel um 3,7 Mio. Euro auf. Dennoch mussten zahlreiche Kurse mit mehreren hundert Bewerben mangels Fördermittel abgesagt werden.

Die verbreitete Behauptung, es fänden sich zu wenig Azubis für den Beruf, zählt zu den ältesten Märchen auf diesem Gebiet.

Der Kommentar

Kein Zweifel: Die Beschäftigung in der Pflege – gemessen als Arbeitsvolumen – muss in den kommenden Jahrzehnten erheblich steigen, um eine hochwertige und vorrangig häusliche Versorgung zu sichern. Der Ruf nach verstärkten Importen ausgebildeter Kräfte aus dem Ausland dient dagegen vor allem dazu, die Pflege als Niedriglohnsektor zu stabilisieren und Kosten für die Ausbildung zu sparen.

Der Marktmechanismus, wonach Knappheit zu Preissteigerung führt, kann in der Altenpflegebranche allenfalls eingeschränkt funktionieren. Denn bessere Löhne und Arbeitsbedingungen sind hier nur mit Zustimmung der Kostenträger möglich. Bislang ist selbst die Refinanzierung bescheidener Tariferhöhungen nicht immer gesichert. Nicht «noch mehr Markt» ist die Lösung, sondern die Beendigung der chronischen Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte durch Heranziehung des privatisierten Reichtums – Umverteilung von oben zur Pflege.

* In dieser Rubrik nehmen GERD BOSBACH und DANIEL KREUTZ monatlich Falschbehauptungen aufs Korn, die nur deshalb für wahr gehalten werden, weil sie ständig kolportiert, aber kaum hinterfragt werden.

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