von Wolf Wetzel
Am 17.April 2013 wurde in München der Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere vier Neonazis wegen Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nach §129a und Beihilfe zu Mord eröffnet. Die Frage ist nicht, wer ab dem 17.April 2013 auf der Anklagebank sitzt, was dort verhandelt werden soll. Die Frage ist vielmehr, wer nicht vor Gericht steht, was alles nicht verhandelt werden soll.
Laut Anklageschrift bestand der Nationalsozialistische Untergrund aus drei Mitgliedern, das letzte lebende Mitglied soll Beate Zschäpe sein. Die Frage der Verwicklung staatlicher Behörden in die NSU-Morde ist ebenfalls bereits geklärt: «Es gab bei unseren Ermittlungen keine tragfähigen Hinweise auf eine strafrechtlich relevante Verstrickung staatlicher Stellen in die Straftaten der NSU», bekräftigte Generalbundesanwalt Harald Range in Karlsruhe (Deutschland today vom 12.12.2012).
Ebenso will die Generalbundesanwaltschaft keine Belege dafür gefunden haben, dass es «Verflechtungen des NSU mit anderen Gruppierungen» (FAZ vom 8.11.2012) gab.
Damit will die Generalbundesanwaltschaft etwas justiziabel machen, was seit zwei Jahren kolportiert wird: Der Nationalsozialistische Untergrund ist «das Zwickauer Terrortrio», Beate Zschäpe das letzte lebende Mitglied. Damit ist bereits vor Beginn des Prozesses alles entschieden, alles wieder gut: Den NSU gibt es nicht mehr.
Die Frage ist also nicht, wer ab dem 17.April 2013 auf der Anklagebank sitzt, was dort verhandelt werden soll. Die Frage ist vielmehr, wer nicht vor Gericht steht, was alles nicht verhandelt werden soll!
Dreizehn Jahre lang wusste niemand in den zahlreichen Strafverfolgungsorganisationen, dass es eine neonazistische Terrorgruppe namens «Nationalsozialistischer Untergrund» gibt. Nachdem die Existenz des NSU Ende 2011 nicht mehr zu verheimlichen war, wussten alle, die Polizei, die Geheimdienste, die Innenministerien, die Generalbundesanwaltschaft und alle Leitmedien, dass der NSU aus exakt drei Mitgliedern besteht. Weder fünf, nicht zwanzig, noch eine bislang unbekannte Zahl. Exakt drei! Nachdem alle (Straf-)Verfolgungsbehörden 13 Jahre lang «im Dunkeln tappten», nachdem 13 Jahre absolute Finsternis herrschte, folgte gleißende, gebündelte Erleuchtung. Seitdem ätzt sich das Wort «Mordtrio» ins öffentliche Gedächtnis und die gesamte Presselandschaft folgt zwanglos dieser Diktion.
Noch nie in der Geschichte der BRD standen staatliche Sicherheits-/Verfolgungsbehörden so sehr in der öffentlichen Kritik. Noch nie gab es ein solch konzentriertes Chefsterben. Wie Dominosteine fallen die Köpfe von Behörden: Der vorläufig letzte war der Chef des Verfassungsschutzes in Sachsen-Anhalt. Allerdings ein Chefsterben der Luxusklasse: Entlassung bei vollen Bezügen, sicheres Geleit in den vorzeitigen Ruhestand, komfortable Versetzungen.
Noch nie gab es in Deutschland ein organisiertes Verbrechen, das – angesichts erdrückender Beweise – so straffrei blieb. Noch nie waren die Zweifel an der Notwendigkeit von Geheimdiensten, sei es der Verfassungsschutz oder der MAD, so laut, so prominent. Noch nie gab es eine solch hochkarätige Chance, das, was man für falsch hält, was man als Verdacht geäußert hat, was man im schlimmsten Fall befürchtet hat, im Detail zu belegen.
Eigentlich die Chance für eine kritische Öffentlichkeit, für die Linke, hier die Verfolgung aufzunehmen, den Spieß endlich umzudrehen. Schließlich hat die Linke in vielerlei Hinsicht Erfahrungen damit, was die Geheimdienste können, was Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden selbst dann aus etwas machen, wenn sie rein gar nichts in der Hand haben...
Und gerade deshalb ist das Ausbleiben einer politischen, eigenständigen Aktion so schwer zu verstehen. Zehntausend verhinderten mit Blockaden Neonaziaufmärsche in Dresden. Warum blockieren nicht 20.000 das Bundesamt für Verfassungsschutz?
Keine Frage: Viele werden sagen, dass sie jetzt doch nur darin bestätigt werden, was sie seit Jahren, seit Jahrzehnten rufen, und rufen: «Deutsche Polizisten schützen die Faschisten.» Und natürlich brauchen viele Linke keine zusätzlichen Beweise dafür, dass der Verfassungsschutz abgeschafft gehört.
Auf den ersten Blick einleuchtend, auf den zweiten ziemlich falsch: Noch nie bot sich der Linken ein so präziser Einblick in Verfolgungsorgane. Noch nie bot sich so viel Material, die Legende vom Rechtsstaat zu zerstören. Noch nie zeigten sich staatliche Strukturen auf eine Weise, die die Frage beantworten hilft: Um was für einen Staat handelt es sich heute? Um einen Überwachungsstaat? Um einen tiefen Staat, in dem sich Staatsterrorismus und demokratische Wahlen nicht ausschließen? Um einen Staat, der operative Kerne herausgebildet hat, die weder institutionell legitimiert sind, noch parlamentarisch kontrolliert werden? Operative Kerne, für die Terrorismus und Unterstützung von terroristischen Aktionen kein Problem sind, sondern konstituierendes Moment?
Wem die Verfasstheit des Staates nicht egal ist, wer in seiner Kritik nicht nur radikal sein will, sondern sie im Detail belegen und begründen will, der sollte sich angesichts der vielen Skandale rund um die neonazistische Mordserie nicht müde abdrehen, sondern hellwach hinschauen.
Dies ist auch der wesentliche Grund dieser Recherche: Genau und Präzise zu belegen, was viele Wenige in den 70er und 80er Jahren für möglich hielten und was aufgrund vergleichsweise weniger «Beweise» als wilde Spekulation abgetan werden konnte.
Heute fehlen nicht die Belege für einen Staatsterrorismus, ohne den die Mordserie des NSU nicht möglich gewesen wäre – es fehlt der Mut, aus der Geste «Das haben wir doch schon immer gewusst» herauszutreten, aufzuhören, recht zu haben, und anzufangen, an den Verhältnissen etwas zu ändern.
2012 verurteilte das Amtsgericht Dresden den Antifaschisten Tim H. zu einem Jahr und 10 Monaten Haft – ohne Bewährung. Es sah es als erwiesen an, dass Tim H. im Zuge der Gegendemonstrationen gegen einen Naziaufmarsch am 19.Februar 2011 in Dresden folgende Straftaten begangen habe: Körperverletzung, besonders schwerer Landfriedensbruch und Beleidigung. Letztere soll er mit dem Wort «Nazischwein» gegenüber einem Polizeibeamten begangen haben. Die beiden schweren Straftaten habe er zwar nicht selbst begangen, aber so gut wie: Mittels eines Megafons habe er andere dazu «aufgeheizt», was den Richter zu dem Fazit führte: «Was andere getan haben, müssen Sie sich mit anrechnen lassen.»
Damit habe er sich der Mittäterschaft nach §25 Abs.2 StGB schuldig gemacht. Ein Paragraf, der in seinen traumwandlerischen Ausdeutungen darlegt, wie man Täter ohne Tat werden kann:
«Mittäter ist, wer nicht nur fremdes Tun fördert, sondern einen eigenen Tatbeitrag derart in eine gemeinschaftliche Tat einfügt, dass sein Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint … Für eine Tatbeteiligung als Mittäter reicht ein auf der Grundlage gemeinsamen Wollens die Tatbestandserfüllung fördernder Beitrag aus, der sich auf eine Vorbereitungs- oder Unterstützungshandlung beschränken oder in einer geistigen Mitwirkung liegen kann.»
Lässt man dieses Urteil einmal so stehen und geht man von dem Gebot der Rechtsgleichheit aus, dann wird eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord in mindestens neun Fällen, für die der NSU verantwortlich gemacht wird, gegen die zwischen 2000 und 2006 amtierenden Innenminister von Thüringen und Sachsen, gegen die Behördenchefs der Verfassungsschutzämter in Thüringen und Sachsen und gegen den Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) zu einem revisionssicheren, der Abschreckung dienenden Urteil zwischen drei und fünfzehn Jahren führen.
Genügen in diesem Land zur Verhängung einer Haftstrafe von fast zwei Jahren ein Megafon und ein Gesetz, dem «geistige Mitwirkung» als Straftat völlig ausreicht, dann kann man im Fall der längst fälligen Prozesse gegen führende Staatsbeamte von einem Berg an Beweisen ausgehen, von der Evidenz zahlreicher Tatbeiträge, ohne die es den NSU keine dreizehn Jahre hätte geben können.
Wolf Wetzel war in den 90er Jahren Mitglied im antirassistischen Plenum Frankfurt, Mitinitiator des Aufrufs zur Bundestagsblockade anlässlich der Abschaffung des Asylrechts 1993 und zwischen 2001 und 2007 Mitglied in der AntiNaziKoordination (ANK) in Frankfurt am Main. Von ihm ist im vergangenen April ein Buch über den NSU-VS-Komplex erschienen (siehe Rezension). Wir veröffentlichen Auszüge aus dem ersten Kapitel.
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