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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2013
Im Einzelhandel sollen Beschäftigte für weniger Geld länger arbeiten
von Helmut Born

Die Unternehmer im Einzelhandel haben alle Manteltarifverträge gekündigt. Sie wollen durchsetzen, dass Kassiererinnen und Auffüllkräfte noch weniger verdienen und noch längere und weniger planbare Arbeitszeiten haben.

Auch nach der zweiten Verhandlungsrunde im Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen am 4.Juni in Essen zeichnet sich keine Lösung im Tarifkonflikt ab. Die Bosse des Einzelhandelsverbands bestehen auf ihrer Forderung nach weiterer Flexibilisierung der Arbeitszeit, Abschaffung von Spät- und Nachtarbeitszuschlägen für bestimmte Beschäftigungsgruppen, Abschaffung wichtiger Regelungen für Teilzeitbeschäftigte und Schaffung neuer, schlechterer Tarifgruppen für Verräumerinnen und Kassiererinnen. Sie haben von Ver.di verlangt, über diese Verschlechterungen zu verhandeln, bevor sie bereit sind, ein Angebot für eine Lohnerhöhung vorzulegen.

Im einzelnen fordern sie:

1. Flexible Arbeitszeiten: Der Manteltarifvertrag (MTV) sieht vor, dass es eine systematische Arbeitszeiteinteilung gibt, die zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat in einer Betriebsvereinbarung zu regeln ist. Grundlage ist die 37,5-Stunden-Woche, die im Durchschnitt in 52 Wochen erreicht sein muss. Diese systematische Arbeitszeiteinteilung soll aus dem MTV gestrichen und stattdessen flexiblere Möglichkeiten wie Vertrauensarbeitszeit, Festlegung der Arbeitszeiten im Team je nach Arbeitsanfall usw. festgeschrieben werden. Damit könnte das vorhandene wenige Personal noch flexibler eingesetzt werden. Am Ende würden Beschäftigte per Telefon zum Arbeitseinsatz gerufen werden.

2. Bezahlung nach Tätigkeit

Mit den jetzigen Regelungen in den Lohn- und Gehaltstarifverträgen werden Verkäuferinnen, Kassiererinnen, Sachbearbeiterinnen und Dekorateure in der Regel in der Gehaltsgruppe 1 eingruppiert. In dieser Gehaltsgruppe gibt es sechs Berufsjahre, in der man nach einer Ausbildung nach drei Jahren Tätigkeit landet und, wenn man nicht auf Karriere aus ist, sein restliches Berufsleben dort verbringt. Im 6.Berufsjahr werden 2248 Euro brutto gezahlt, was netto ungefähr 1550 Euro macht. Die Unternehmer sagen, Kassieren sei heutzutage eine einfache Tätigkeit und müsse deswegen schlechter bezahlt werden. Sie wollen eine spezielle Tarifgruppe für «einfache» Tätigkeiten schaffen. Wie schlecht die Bezahlung für diese Beschäftigten sein soll, haben sie noch nicht verraten.

Ähnlich stellen sie sich die Bezahlung der Auffüllkräfte vor. Diese werden nach dem Lohntarifvertrag bezahlt und bekommen heute 12 Euro, wenn sie korrekt bezahlt werden. Für Auffüllkräfte soll der Lohn ebenfalls auf ein «angemessenes» Niveau gedrückt werden. Daran haben vor allem die Vorstände von Rewe und Real eine Interesse. Bei Real z.B. werden Auffüllkräfte heute häufig als Leiharbeiter nachts beschäftigt. Diese Beschäftigten bekommen einen Stundenlohn von 7 bis 8 Euro. Da aber Leiharbeit in der öffentlichen Diskussion heute eher schlecht weg kommt und die Erledigung der Arbeiten häufig zu wünschen übrig lässt, wollen Rewe und Real wieder eigene Beschäftigte für Auffülltätigkeiten einstellen. Eigene Beschäftigte  hätten nach den geltenden Tarifverträgen Anspruch auf einen Stundenlohn von 12 Euro plus Nachtarbeitszuschlag von 55%, macht 18,60 Euro. Deswegen sollen die Zuschläge möglichst abgeschafft und der Stundenlohn gesenkt werden.

3. Absenkung der Zuschläge

Im Einzelhandel wird für Spätarbeit zwischen 18.30 Uhr und 20 Uhr ein Zuschlag von 20%, ab 20 Uhr ein Zuschlag von 55% bezahlt oder in Freizeit abgegolten. Da heutzutage viele Geschäfte bis 22 Uhr oder noch länger geöffnet sind, wollen die Unternehmer diese Zuschläge am liebsten beseitigen oder aber zumindest erheblich senken. Für die Beschäftigten sind sie aber bares Geld oder mehrere freie Tage im Jahr wert und deshalb besonders wichtig.

Hohe Streikbereitschaft

Die Verhandlungskommission von Ver.di hat es abgelehnt, über den Manteltarifvertrag zu verhandeln. Deswegen wurden auch nur Forderungen zu Lohn und Gehalt aufgestellt. In NRW fordern wir 6,5%, mindestens aber 140 Euro Gehaltserhöhung, für Azubis einen Festbetrag von 140 Euro. In insgesamt sechs Tarifbezirken wurde die Forderung nach 1 Euro mehr pro Stunde aufgestellt, das bedeutet einen Festbetrag von 163 Euro.

Die Unternehmer haben mit ihrer Strategie eine ähnliche Situation wie 2007 herbeigeführt. Damals dauerte es 18 Monate, bis es zu einem Abschluss kam. Heute wird es darauf ankommen, wie entschlossen die Antwort der kampfbereiten Teile der Belegschaften im Einzelhandel sein wird. Viele Beschäftigte haben befristete Verträge, oft werden auch Leiharbeiterinnen eingesetzt. Das erschwert die Auseinandersetzungen in Tarifrunden. Trotzdem haben wir im Einzelhandel eine steigende Anzahl von Betrieben, in denen es zu Streiks kommt.

Auch wenn es häufig nicht gelingt, die Läden dicht zu halten, schaffen die Streiks den Unternehmern doch erhebliche Probleme, ganz abgesehen von den vielen kreativen Aktionsformen, die für Unruhe bei den Bossen und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit sorgen. Wir müssen auch sehen, dass wir es im Einzelhandel nicht mit Fließbandarbeit zu tun haben, wo 20–30% der Beschäftigten ausreichen, um den Betrieb stillzulegen. Warenhäuser oder Supermärkte können auch mit 30% der Beschäftigten den Betrieb vorübergehend weiterführen.

Die ersten Streiks, die in vielen Bundesländern laufen, lassen hoffen, dass die Einzelhandelsbosse genau wie 2007/2008 eine Niederlage erleiden. Ob dann noch die Kraft reicht, um auch einen guten Abschluss bei der Erhöhung der Einkommen zu erreichen, bleibt abzuwarten. Selten hat es solch eine Beitrittswelle im Einzelhandel gegeben. Außerdem wird es sicherlich zu einer Ausweitung der Streikdauer kommen. In Düsseldorf haben wir schon vier Streiktage in der Innenstadt gehabt. Daran waren die Beschäftigten von H+M, Kaufhof, Esprit und Real beteiligt. Wir können aber auch hier noch drauflegen.

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