In der Türkei hat sich eine neue Generation erhoben, die unter der konservativ-neoliberalen und autoritären Führung der AKP aufgewachsen ist. Was sind die Gründe für ihre Unzufriedenheit? Was haben Taksim, Tahrir und Syntagma gemeinsam?
In der westlichen Öffentlichkeit wurde die Türkei in der jüngsten Weltwirtschaftskrise als ein Modell nicht nur für die muslimische Welt, sondern auch als Wirtschaftsmodell für Europa präsentiert. Ist das so?
Kann eine autoritäre Politik ein Modell sein? Jedenfalls kein stabiles, wie die jüngsten Ereignisse gezeigt haben. Können neoliberale Spekulation und finanzgetriebenes Wachstum eine Modell für Entwicklung, sozialen Zusammenhalt und regionale Konvergenz sein? Nein, wie die jüngste Geschichte der Türkei zeigt, auch hier gibt es regelmäßige Zyklen von Boom und Pleiten und Krisen wie die von 1994, 2001 und 2009. 2009 erlebte die Türkei eine ihrer schwersten Rezessionen, sie war tiefer als in anderen aufstrebenden Ökonomien. Tatsächlich hätte das Wachstumsmodell der Türkei, das von billiger Arbeitskraft, dem Zufluss spekulativen Finanzkapitals und einem hohen Handelsdefizit abhängt, auch ohne die globale Rezession früher oder später eine Krise erlebt. Die Erholung seit 2009 ist sehr fragil. Der Anteil der Industrieproduktion geht zurück und wird zunehmend abhängiger vom Import von Zwischen- und Kapitalgütern. Dies ist ein Wachstumsprozess mit hoher Jugendarbeitslosigkeit (bis zu 22%), der weder sozial noch ökonomisch stabil ist.
Die AKP hat kürzlich stolz verkündet, dass sie die letzte Schuldenrate an den IWF überwiesen hat. Dafür hat die Türkei im letzten Jahrzehnt zunehmend Anleihen auf den internationalen Finanzmärkten aufgenommen, insbesondere die Auslandsschulden des privaten Sektors haben ein beispielloses Ausmaß erreicht. Wenn die privaten Schuldner bankrott gehen, werden ihre Verluste oft sozialisiert. Die Krise an der europäischen Peripherie ist nur ein weiteres Beispiel für diesen Krisentyp, den wir früher in Lateinamerika und Ostasien erlebt haben. Die Frage ist nicht ob, sondern wann die nächste Krise die Türkei erreicht, und diese Entscheidung werden die internationalen Finanzinvestoren treffen.
Das Bild der Proteste in der Türkei wird nicht von den Armen oder der Arbeiterklasse bestimmt, sondern von der Forderung nach Demokratie und sozialer Freiheit. Ist es möglich, beides zusammenzubringen?
Das ist bereits geschehen. Der Verband der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes hat seinen Streik gegen die Änderungen im Arbeitsrecht auf den 4./5.Juni verschoben, um die Proteste zu unterstützen. Was die Unzufriedenheit in Aufruhr umschlagen ließ, ist auch die zunehmende Unsicherheit und Verarmung der werktätigen Bevölkerung. Die AKP hat einen Prozess der Umverteilung zugunsten der Ärmsten der Gesellschaft eingeleitet, einerseits über die Subventionierung von Nahrungsmitteln und Energie, andererseits über einige institutionelle Änderungen zugunsten der Armen, z.B. im Gesundheitssektor. Doch die Mittel für diese Umverteilung hat sie aus den Einkommen der organisierten Arbeiter und Angestellten genommen, nicht aus einer Besteuerung der Reichen. Diese Umverteilung steigert die Profite der großen Kapitalisten, ohne dem ärmsten Teil der Bevölkerung zu schaden. Das erklärt auch einen Teil der Wahlunterstützung für die AKP bei breiten Teilen der Bevölkerung.
In den letzten zehn Jahren hat die Existenzunsicherheit für alle Teile der Arbeiterschaft zugenommen, außer für die Ärmsten im Lande. In dieser Zeit hat sich der Anteil der Beschäftigten, die für outgesourcte Betriebe arbeiten, verdreifacht, er liegt heute bei mehr als 1,5 Millionen. Fast tausend Arbeiter starben bei Arbeitsunfällen. Ahmet Tellioglu, Betriebsarzt in einer größeren Istanbuler Fabrik, der kürzlich entlassen wurde, weil er die gesundheitsgefährdenden Praktiken des Unternehmens kritisiert hatte, sagt: «Jeder, dem es etwas besser geht als den Ärmsten oder der etwas mehr verdient als den Mindestlohn, also jede werktätige Person, die etwas zu verlieren hat, fühlt heute in der Türkei eine zunehmende Unsicherheit.»
Die Protestierer sagen, die türkische Regierung baut Einkaufszentren im ganzen Land, und das versucht sie auch im Gezi-Park. Sie sagen auch, Einkaufszentren sind das Ende der kleinen Läden und der fliegenden Händler. Entsteht da ein neues Proletariat?
Ja, die Verlierer dieser Politik haben viele Gesichter. Gentrifizierung und Kommerzialisierung schaffen Möglichkeiten für neue urbane Bündnisse zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft – von kurdischen Straßenverkäufern über organisierte Arbeiter bis zu kleinen Ladenbesitzern. Manche von ihnen haben vielleicht AKP gewählt, doch die neoliberale Politik und Erdogans schiere Arroganz und Brutalität seine Missachtung für die Unzufriedenheit in der Bevölkerung könnten der Beginn für eine Erosion seiner Massenbasis sein.
In den letzten beiden Jahren haben wir überall Massenerhebungen gesehen, von der Wall Street bis Tunesien, jüngst in Schweden und nun in der Türkei. Haben sie, abgesehen von der Polizeibrutalität, etwas gemeinsam?
Ja, eine ganze Menge. Sie sind alle eine Rebellion gegen den Mangel an Demokratie, an Gehör und an Vertretung, aber auch gegen die wachsende Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Kommerzialisierung der Versorgung mit Grundgütern und die vielfältigen Dimensionen der Krise – Energiekrise, Klimawandel, Umweltkrise und Nahrungsmittelkrise. Junge Männer und Frauen, die zumeist nicht aus organisierten linken Zusammenhängen kommen, standen bei diesen Mobilisierungen an vorderster Front. Es ist nicht überraschend, dass dies in einer Zeit mit Rekordjugendarbeitslosigkeit geschieht. Das ist eine neue Generation, die unsicher in ihre Zukunft blickt, wenn überhaupt, nur mit befristeten Verträgen arbeitet, für wenig Geld und in Jobs, die ihrem Ausbildungsstand und ihren Zielen nicht entsprechen.
Diese Mobilisierungen haben der Unzufriedenheit einer bislang schweigenden Mehrzahl von Menschen auf der Erde einen massenhaften Ausdruck verliehen und Hoffnungslosigkeit zuerst in Wut und dann in Hoffnung verwandelt. Ihren Erfahrungen wurde gefolgt, und sie erhielten Solidarität aus der ganzen Welt. Sie haben einen Dominoeffekt geschaffen, zuerst regional, aber ich glaube, es ist fair zu sagen, auch international. Die Türkei hat eine lange Tradition von Aufständen, aber ich glaube, die jüngsten Bilder von den Rebellionen in Griechenland, Spanien oder Ägypten sind denen, die zum erstmal in Istanbul, Izmir oder Ankara demonstrieren, lebendiger in Erinnerung als die Geschichte der Türkei, die im kollektiven Gedächtnis junger Türkinnen und Türken durch den Militärputsch [von 1980] und die nachfolgende Herrschaft der Elitegenerationen nachhaltig ausgelöscht, diskreditiert oder dämonisiert wurde.
Demonstrieren und besetzen ist jetzt in einem positiven Sinn fast «in». Die Furcht überwinden und rebellieren ist etwas, worauf man stolz ist. Es ist ein einheitsstiftendes Gefühl wie das Hören eines Songs von einem Konzert deiner Lieblingsband, die in einem fernen Winkel der Welt spielt. Egal was demnächst geschieht, all diese Mobilisierungen haben unsere sozialen Prägungen für immer verändert.
Özlem Onaran ist türkische Ökonomin und lebt in London.
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