von Anders Svensson
Am 19.Mai 2013 begannen Aufstände migrantischer Jugendlicher in Husby, einem verwahrlosten Stadtteil im Norden von Stockholm – dem Vernehmen nach, weil eine Woche zuvor ein älterer Mann von der Polizei erschossen worden war, nachdem er angeblich Polizisten gedroht hatte, sie mit einer Machete umzubringen. Die Aufstände sprangen bald auf andere arme Stadtteile und auch auf andere Städte wie Örebro, Linköping, Södertälje und Göteborg über.
Der mehrere Tage dauernde Aufruhr in Schweden wird wahrscheinlich jene überrascht haben, die dieses Land immer noch mit einer starken Sozialdemokratie assoziieren und als Paradebeispiel für das «skandinavische Modell» betrachten. Aber Schweden und andere Skandinavier wissen, dass dieses Modell längst am Ende und Schweden kein Wohlfahrtsstaat mehr ist.
In den 80er Jahren führten sozialdemokratische Regierungen die ersten Privatisierungen durch, eine neoliberale Wirtschaftspolitik nahm ihren Anfang. In den 90er Jahren verschärfte sich das Tempo, in dem neoliberale Reformen verabschiedet wurden. Das Rentensystem wurde teilweise privatisiert und von den Aktienkursen abhängig. Auf Sparmaßnahmen folgten Steuersenkungen für Unternehmen und die Reichen. Seit sechs Jahren hat Schweden nun eine konservative Regierung, und das Tempo der neoliberalen Kahlschlagpolitik nimmt noch mehr zu. Die Eisenbahn wurde privatisiert, auch die Stromversorgung und das Telefonnetz. Inzwischen sind die meisten staatlichen Unternehmen verkauft und das Bildungs- und Gesundheitswesen teilweise privatisiert worden.
Die Vermögensteuer wurde 2007 abgeschafft, Einkommensteuer und Unternehmensteuer wurden gesenkt. Weitere Einsparungen betreffen die Sozialhilfe und die Krankenversicherung. Dafür können die Reichen die Kosten für den Bau eines Hauses, auch wenn es sich dabei um eine kapitale Villa handelt, oder für die Einstellung von Personal von der Steuer absetzen. Das Ergebnis von alldem ist, dass in Schweden im westeuropäischen Vergleich die soziale Ungleichheit am schnellsten wächst. Einst war Schweden laut OECD das egalitärste Land der Welt, heute steht es nur noch auf Platz 14.
Die Arbeitslosigkeit wächst, offiziell liegt sie bei 8%. Vor allem jüngere Menschen und Migranten haben Mühe, einen Job zu finden. Unter somalischen Migranten beträgt die Erwerbslosenrate 30%, unter jungen Menschen liegt sie bei 20%. Die Quote wäre noch höher, wenn viele der Jüngeren zum Arbeiten nicht ins Ausland gingen: Ungefähr 80.000 junge Schweden arbeiten in Norwegen, weitere 20000 in Dänemark. Das sind rund 1% der gesamten Bevölkerung Schwedens.
Die wirkliche Erwerbslosenrate ist allerdings weit höher. Und oft erhalten selbst Menschen, die offiziell als arbeitslos registriert sind, kaum Arbeitslosengeld und sind somit von ihrer Familie abhängig. Tausende sind aber gar nicht registriert, und es ist eigentlich ein Rätsel, wie sie überleben. Die ungefähr 50.000 Menschen ohne Papiere sind alle von der Sozialhilfe ausgeschlossen, können aber die öffentlichen Krankenhäuser und Schulen benutzen. Ein weiteres wachsendes Problem ist die Wohnungsnot. In Göteborg, der zweitgrößten Stadt des Landes, fehlen 30.000 Wohnungen, in Stockholm ist die Not noch größer. Vor allem in den Vororten wohnen Menschen oft in kleinen Wohnungen, und die jungen Leute verbringen daher viel Zeit auf der Straße.
Dies alles hat zu wachsenden sozialen Spannungen geführt. Seit 2008 gibt es jedes Jahr Aufruhr in den schwedischen Vorstädten, häufig in Göteborg, dem industriellen Zentrum des Landes. Dort fanden die heftigsten Unruhen 2009 statt. Zwischen August und November brachen damals in Göteborgs Vorstädten periodisch Krawalle aus. Sechs der zehn ärmsten Stadtteile Schwedens liegen in Göteborg, die Unruhen fanden aber in etwas wohlhabenderen Arbeitervierteln statt, nicht in den allerärmsten Vierteln, wo der Anteil der Migranten am höchsten ist. Verschiedene Gruppen nahmen daran teil, von Straßenkriminellen bis zu einzelnen politischen Aktivisten. Die wachsende Arbeitslosigkeit und der sinkende Wohlstand infolge der neoliberalen Politik gehen seit zwei Jahrzehnten mit einer Zunahme der organisierten Kriminalität einher. In einigen Arbeitervierteln Göteborgs und im südlichen Malmö spielen Banden mittlerweile eine bedeutende Rolle.
Der Zündstoff für die jüngsten Unruhen sind die sichtbare Ungleichheit und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, aber die Krawalle sind an sich keine politische Aktion. Jedesmal war ihr Anlass ein Übergriff der Polizei. So kam es zur jüngsten Welle, als die Polizei einen älteren Mann erschoss und anschließend Lügen verbreitete über die Umstände, unter denen dies geschah.
Auf einzelne friedliche Proteste und die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung des Vorfalls folgten Plünderungen in kleinerem Maßstab und das Anzünden eines Autos in Husby, einem nördlichen Vorort von Stockholm. Die Polizei reagierte mit massiver und vielfach rassistischer Gewalt. Die Ausbreitung der Unruhen über verschiedene Vororte Stockholms und einige andere Städte war die unmittelbare Antwort der jungen Leute in diesen Vierteln.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.