Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2013
von Ulf Petersen

Die ganze Welt schaute im Juni gebannt auf Istanbul. Die Kleinstadt Beytüssebap in den Bergen kurz vor der Grenze zum Irak ist etwa 1300 Kilometer vom Gezi-Park entfernt. Sie ist eine Hochburg des 1984 begonnen Kampfes der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Was bedeutet «Überall ist Taksim, überall ist Widerstand» für den kurdischen Südosten der Türkei?

«Geh nicht in den Westen, dort gibt es Terrorismus, wir machen uns Sorgen um Dich!», so die scherzhafte Warnung an eine Freundin bei ihrer Abreise aus Beytüssebap nach Ankara letzte Woche. Dieser Scherz hat eine bittere Seite, denn ein großer Teil der Teilnehmenden am Aufstand gegen Regierungschef Erdogan hat bislang die Lügen und Denunziationen gegen die Kurden geglaubt oder passiv hingenommen.

Trotzdem nehmen viele Kurden an der Bewegung teil. Die PKK und die im türkischen Parlament vertretene kurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) unterstützen den Kampf. «Grüße von der Burg des Widerstands», war auf einem der Transparente einer Solidaritätsdemonstration in der kurdischen Metropole Diyarbak?r am 1.Juni zu lesen. Es gibt hier die Hoffnung, dass die Menschen im Westen der Türkei anfangen zu verstehen, warum die Kurden seit Jahren kämpfen und wie die Medien sich dabei verhalten haben.

Vom Krieg zum Frieden?

2011 und 2012 wurde in der AKP und in der machtvollen Bewegung des islamistischen Predigers Fetullah Gülen offen über eine «Sri-Lanka-Lösung» für den Konflikt mit den Kurden diskutiert. Das war ein zynischer Bezug auf die militärische Zerschlagung der tamilischen Organisation Tamil Tigers durch ein Massaker an der Zivilbevölkerung im Norden Sri Lankas im Frühjahr 2009 mit bis zu 40.000 Toten. Parallel zu den militärischen Operationen ginge die Massenverhaftungen gegen die zivile kurdische Bewegung weiter. Als Reaktion darauf begann die PKK-Guerilla im Sommer 2012 eine Offensive und zeigte, dass sie auf größerer Fläche das türkische Militär in die Defensive drängen kann.

Teil dieser Offensive war ein Angriff auf das staatliche Bezirksamt im Stadtzentrum von Beytüssebap am 1.September. Nach mehrstündigem Gefecht in der Stadt zogen sich die Kämpfer in die Umgebung zurück und führten noch tagelang Kontrollen an den Zufahrtsstraßen durch. Die Brücke auf der Landstraße, die zum Ort führt, wurde vor dem Angriff gesprengt, um eine Verstärkung für die türkische Armee zu blockieren. Sie war zum Zeitpunkt meines Besuchs Ende März 2013 noch durch eine Behelfsbrücke ersetzt.

Die Menschen sind mehr schlecht als recht an den Konflikt gewohnt, die Kämpfe finden in den umliegenden Bergen statt. Die Eskalation im letzten Jahr, die Tatsache, dass der Krieg in die Stadt kommt, hatte viele Bewohner zum Wegzug aus dem Ort gedrängt. Mit umso größerer Erleichterung wurden die Friedensbemühungen in diesem Jahr aufgenommen. Die Leute in der Gegend zogen im Frühling mit ihrem Vieh wieder auf die eigentlich als militärisches Sperrgebiet verbotenen Hochweiden, es gibt einen Vorgeschmack auf den erhofften Frieden, eine Atempause.

Am 21.März dieses Jahres, dem kurdischen Frühlingsfest Newroz, wurde eine Erklärung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan verlesen, anschließend erklärte die PKK-Guerilla den Waffenstillstand; damit sollte ein Friedensprozess eingeleitet werden. Seit Ende 2012 laufen wieder direkte Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der PKK. Und seit dem 8.Mai zieht sich die Guerilla der PKK aus der Türkei in den Nordirak zurück.

Blick auf Taksim

Als ich eine Familie in Beytüssebap besuchte, sagte man mir: «Wir vertrauen Erdogan.» Ich war irritiert, auf meine Nachfrage hin wurde mir erklärt, dies sei ein Vertrauensvorschuss aus einer Position der Stärke heraus, der auch als Drohung verstanden werden müsse – für den Fall, dass Erdogan und die AKP, wie im Sommer 2011, nach ihrem Wahlerfolg wieder auf Repression und Krieg umschwenken oder den Friedensprozess versanden lassen. Letzteres scheint sich gerade abzuzeichnen. Erdogan hat letzte Woche Abdullah Öcalan auch wieder einmal als «Terroristenführer» bezeichnet, eine Wortwahl, die seit März 2013 vermieden wurde.

«Warum wirft die Polizei kein Tränengas? Es ist der verdammte Friedensprozess! Wenn sie jetzt Ärger machen, gibt es gravierendere Konsequenzen als gewohnt», sagte ein Teilnehmer der erwähnten Solidaritätsdemonstration in Diyarbak?r zur Journalistin Frederike Geerdink. Hoffnung auf Frieden und Skepsis halten sich die Waage: «Wir sind bereit für den Frieden, aber auch bereit zu kämpfen,» sagt ein Aktivist in der PKK-Hochburg Sirnak.

Für die meisten Protestierenden in Istanbul und den über 60 anderen Städten war die Konfrontation mit Staatsgewalt und Kriminalisierung neu und überraschend. Gleichzeitig sind viele von ihnen türkische Patrioten und loyale Staatsbürger. Wie sich dieser Widerspruch entwickelt, ist offen. In Orten wie Beytüssebap wird der Staat von der Bevölkerung dagegen als Besatzungsmacht angesehen, hier gibt es keine Illusionen mehr zu verlieren. «Kurdistan – internationale Kolonie», so hatte der türkische Soziologe Ismail Besikci 1991 die Situation der über die Türkei, den Irak, Iran und Syrien verteilten Kurden gekennzeichnet.

Militär und Schule

Für jedes koloniale System sind Militär und Schule die beiden wichtigsten Institutionen. Repression und Assimilierung der Bevölkerung müssen Hand in Hand gehen. Und tatsächlich befindet sich in Beytüssebap und den Dörfern der Region die Schule oft neben den Kasernen von Militär und Militärpolizei (Jandarma). Lehrer müssen bei ihrem Berufseinstieg vier Jahre in eher abgelegenen Orten arbeiten – also oft in der Kurdenregion. In den dortigen Schulen läuft nach wie vor die türkisch-nationalistische Assimilierung: morgendlicher Appell mit drastischem Bekenntnis zum Türkentum, Verbot der kurdischen Sprache im Unterricht, Staatsbürgerkunde als Propagandaveranstaltung.

Anfang der 90er Jahre kam der Krieg auch in die Schulen, Lehrer wurden bedroht und in einzelnen Fällen von der Guerilla umgebracht. Dies war die Reaktion auf die gewaltsame Erziehung der Kinder zu «Türken». Jedes Wort in der Muttersprache Kurdisch wurde damals mit Schlägen beantwortet. Heute hat dieser Konflikt mildere Formen. Am Stadtrand von Beytüssebap steht ein fast fertiger Neubau einer Internatsschule (Yibo). Diese sind besonders verhasst, weil die Kinder dort ganzjährig getrennt von ihren Familien untergebracht sind. Eine Einheit der Guerilla hat den Bau im letzten Sommer mit einer nächtlichen Sprengung gestoppt.

Wenn die Guerilla bei ihren sporadisch eingerichteten Checkpoints auf Lehrer trifft, werden diese ermahnt, die Kinder gut zu behandeln und nach Möglichkeit kurdisch mit ihnen zu sprechen. Letzteres machen viele kurdischsprachige Lehrer inzwischen von sich aus, aus praktischen Gründen oder als Akt des zivilen Ungehorsams, der von den Schulleitungen in der Regel geduldet wird.

Demokratische Autonomie in Kurdistan

Die PKK setzt der staatlichen Unterdrückung das Konzept «Demokratische Autonomie» entgegen: basisdemokratische Selbstorganisierung in Räten, um Alternativen zum Staat aufzubauen, anstatt selbst um die Staatsmacht zu kämpfen oder einen neuen kurdischen Staat zu gründen. Dies wird, wo es möglich ist, praktisch umgesetzt, auch in den autonomen kurdischen Gebieten im Nordosten Syriens. Die Räte treten unter anderem auch an die Stelle der verhassten türkischen Gerichte und kümmern sich um Probleme des Zusammenlebens.

Ein Mitglied des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK), ein Dachverband der zivilen kurdischen Organisationen in der Türkei, erklärt dazu: «Es läuft viel über Gespräche, Dialog, Verhandlungen und, wenn es sein muss, über Kritik und Selbstkritik und dass man denen, die Fehler begangen haben, den richtigen Weg aufzeigt. Über solche Wege funktioniert ganz viel. Es gibt keine Todesstrafe, es gibt keine Gefängnisse und Gefängnisstrafen oder Geldstrafen, aber es gibt gesellschaftliche Isolation, wenn jemand sich falsch verhält.» (Zitat aus der Broschüre «Demokratische Autonomie in Nordkurdistan».)

Die rebellierenden Kurden wollen nicht eine Regierung durch eine andere ersetzen, sondern ihre Rechte und Selbstbestimmung durchsetzen, Alternativen zum Staat aufbauen und diesen letztlich abschaffen. Der gleiche Gedanke findet sich in der Grußbotschaft des zapatistischen Subcomandante Marcos an den Gezi-Widerstand: «Wir haben noch nie eine neue Regierung oder einen neuen Premierminister haben wollen. Wir baten um Respekt ... Und wenn Sie das nicht tun, werden wir, die Eigentümer der Rechte und Freiheiten, gegen sie aufstehen und auf den Straßen kämpfen, bis sie uns zu respektieren lernen ... Wir wollen uns selbst regieren und über uns selbst entscheiden!» Diese Ideen und die praktische Erwiderung des Blicks von Beytüssebap auf Taksim könnten neue Wege für die Lösung der «kurdischen Frage» in der Türkei und für den ganzen mittleren Osten eröffnen.

www.demokratischeautonomie.blogsport.eu

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