Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2013
United Stasi of America
von Daniel Ellsberg

Die National Security Agency (NSA), der größte und finanziell am besten ausgestattete militärische Nachrichtendienst der USA, hat nach Angaben des Informanten und früheren CIA-Mitarbeiters Eduard Snowden weltweit 61.000mal Computernetze angezapft, damit konnte er die Kommunikation zwischen Hunderttausenden Computern abfangen, ohne sich in jeden Rechner einhacken zu müssen. Ein Vorläufer Snowdens war Daniel Ellsberg, der 1973 geheime Papiere des Pentagon veröffentlichte, aus denen die wirkliche Rolle der USA im Vietnamkrieg hervorging – im Gegensatz zur propagierten. Seinen nachstehenden Kommentar schrieb er für den britischen Guardian.

Meiner Meinung nach gab es in der Geschichte der USA keine wichtigere Indiskretion als Edward Snowdens Veröffentlichung des Materials der NSA – einschließlich der Pentagonpapiere vor vierzig Jahren. Snowdens Whistleblowing gibt uns die Möglichkeit, einen wesentlichen Teil des faktischen «Executive coup», also Staatsstreichs gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten, zu stoppen.

Seit dem 11.September wird die «Bill of Rights», die ersten zehn Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung, die unsere Vorfahren vor 200 Jahren erkämpft haben, nach und nach aufgeweicht, zuerst heimlich, nun jedoch immer offener. Besonders der dritte und vierte Verfassungszusatz, die den Bürger vor unzulässiger Einmischung des Staates bewahren, wurden de facto außer Kraft gesetzt.

Die Regierung behauptet, sie habe eine Gerichtsvollmacht nach dem Abhörgesetz in der Auslandsaufklärung – doch diese verfassungswidrige, pauschale Vollmacht stammt von einem geheimen Gericht, das faktisch vor möglicher Überwachung geschützt und Anfragen von höchster Stelle gegenüber willfährig ist.

Wenn der Präsident also sagt, das sei unter gerichtlicher Kontrolle geschehen, ist das Unsinn – ebenso wie die vorgebliche Kontrollfunktion der Geheimdienstausschüsse im Kongress. Nicht zum ersten Mal hat sich gezeigt, dass diese von den Behörden, die sie überwachen sollen, vollständig vereinnahmt werden – etwa bei Fragen wie Folter, Entführung, Internierung, Tötung durch Drohnen und Todesschwadronen. Darüber hinaus sind sie schwarze Löcher für Informationen, die die Öffentlichkeit haben sollte.

Die Tatsache, dass Kongressmitglieder von den Vorgängen «informiert» wurden und sie akzeptierten – ohne offene Debatte, Anhörung, Analysen durch die Mitarbeiter oder sonst irgendeine Möglichkeit, ihnen wirksam entgegen zu treten – zeigt lediglich, wie schlecht es um das System der «checks and balances», der gegenseitigen Kontrollen, in unserem Land bestellt ist.

Natürlich sind die USA kein Polizeistaat. Bei dem Ausmaß der Invasion in die Privatsphäre der Menschen haben wir jedoch die volle elektronische und legale Infrastruktur eines solchen Staates. Wenn es nun einen Krieg geben würde, der eine breite Antikriegsbewegung zur Folge hätte, wie beim Vietnamkrieg, oder, was wahrscheinlicher ist, wenn wir einen weiteren Angriff im Ausmaß vom 11.September erleiden würden, würde ich um unsere Demokratie fürchten. Diese Kräfte sind unglaublich mächtig.

Es gibt legitime Ursachen für Geheimhaltung, besonders in Bezug auf Kommunikationswege. Das ist der Grund, warum Bradley Manning und ich – die wir beide Zugang zu Geheimdienstinformationen mit mehr als Top-Secret-Status hatten – bewusst keine so eingestuften Informationen enthüllten. Und das ist auch der Grund, warum Edward Snowden sich verpflichtet hat, das meiste von dem Material, das er hätte enthüllen können, zurückzuhalten.

Es ist aber nicht legitim, ein Geheimnissystem zu nutzen, um Programme zu verbergen, die ihrem Umfang und Missbrauchspotenzial nach offenkundig verfassungswidrig sind. Weder der Präsident noch der Kongress können alleine den vierten Verfassungszusatz aufheben – das ist der Grund, warum das, was Snowden enthüllt hat, bislang vor der amerikanischen Öffentlichkeit geheim gehalten wurde.

Im Jahr 1975 sagte Senator Frank Church folgendes über die National Security Agency: «Ich weiß, dass die Fähigkeit da ist, eine totale Tyrannei in den USA herzustellen, und wir müssen zusehen, dass diese Behörde und alle Behörden, die über diese Technologie verfügen, im Rahmen des Gesetzes und unter angemessener Überwachung operieren, so dass wir niemals diesen Abgrund überschreiten. Von diesem Abgrund gibt es keine Rückkehr.»

Er hat vor der gefährlichen Zukunftsvision gewarnt, dass Amerikas Fähigkeit, geheime Informationen zu sammeln – die heutzutage jenseits all dessen liegt, was in der vordigitalen Ära möglich war – «zu irgendeinem Zeitpunkt gegen die Amerikaner gekehrt werden kann und kein Amerikaner mehr über Privatsphäre verfügt». Dies ist nun geschehen. Das ist es, was Snowden enthüllt hat, mit offiziellen, geheimen Dokumenten. NSA, FBI und CIA haben mit der neuen digitalen Technologie eine Überwachungsgewalt über unsere eigenen Bürger, von der die Stasi geträumt hätte. Snowden enthüllt, dass die sog. Geheimdienstgemeinde zur United Stasi von Amerika geworden ist.

Wir sind also in den Abgrund von Senator Church gefallen. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob es richtig oder falsch war, dass es von diesem Abgrund kein Zurück gibt, und ob das bedeutet, dass effektive Demokratie unmöglich werden wird. Vor einer Woche wäre es mir schwer gefallen, gegen pessimistische Antworten auf solche Schlussfolgerungen zu argumentieren. Da aber nun Edward Snowden sein Leben aufs Spiel setzte, um diese Information zu veröffentlichen und damit möglicherweise auch andere mit ähnlichem Wissensstand, Gewissen und Patriotismus angespornt hat, eine vergleichbare Zivilcourage zu zeigen, sehe ich unerwartet, dass ein Weg aus dem Abgrund herausführen könnte.

Der Druck einer informierten Öffentlichkeit auf den Kongress, einen Untersuchungsausschuss einzurichten, um Snowdens Enthüllungen und weitere, die noch folgen können, zu prüfen, könnte dazu führen, dass die NSA und die anderen Geheimdienste tatsächlich unter Kontrolle gestellt und zur Zurückhaltung gezwungen werden und der Schutz der Bill of Rights wiederhergestellt wird.

Snowden tat, was er tat, weil er das Überwachungsprogramm der NSA als das erkannte, was es ist: eine gefährliche, verfassungswidrige Aktivität. Dieses massive Eindringen in die Privatsphäre der Amerikaner und ausländischer Bürger trägt nicht zu unserer Sicherheit bei; es gefährdet genau diejenigen Freiheiten, die wir versuchen zu schützen.

aus: The Guardian, 10.6.2013.

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