Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2013
Ein Brief aus Istanbul
von Tayfun Guttstadt

Der Aufstand rund um den Gezi-Park, einem der letzten grünen Flecken im Herzen Istanbuls, begann am 27.Mai. Er konnte erst am 16.Juni von der Polizei geräumt werden, drei Wochen dauerten die Zusammenstöße zwischen der Polizei und den Parkschützern, zu denen sich immer mehr Menschen gesellten, die mit Erdogan ganz eigene Hühnchen zu rupfen haben. Der Preis dafür war die paramilitärische Repression war eine Ausweitung der Proteste auf das ganze Land, vor allem auch auf die Hauptstadt Ankara.

Am 9.Juni demonstrierten über eine Million Menschen in der Istanbuler Innenstadt gegen das autoritäre Gebaren Erdogans und den Polizeikrieg. Obwohl sowohl der naheliegende Taksim-Platz als auch der Park inzwischen geräumt sind, gehen die Proteste weiter. Von diesen Geschehnissen gibt es zahlreiche Augenzeugenberichte, von denen wir einen auszugsweise hier wiedergeben. Er stammt von der Webseite der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (www.ffm-berlin.de) und trägt dort das Datum vom 16.Juni.

Zu Beginn standen nur einige wenige Zelte im Park, die dort ein Art Mahnwache hielten. Das Eingreifen der Polizei war derart brutal (alle Zelte wurden sofort verbrannt), dass binnen weniger Stunden eine weitaus größere Menschenansammlung – organisiert durch moderne Kommunikation (Facebook, Twitter, iPhone) – im Park und drumherum zusammenkam. Es folgte ein weiterer Polizeieinsatz und die Masse wuchs weiter an, zudem breiteten sich die Proteste auf die Großstädte des Westens aus. Plötzlich hieß es: «Her yer Taksim! Her yer Direni!» (Überall ist Taksim! Überall ist Widerstand!)

Was besonders verstörend war: Die großen Medien der Türkei bewiesen auf traurigste Art und Weise, dass sie schon lange nichts weiter als Sprachrohre der Regierung sind. Während CNN international live vom ersten großen Polizeieinsatz am Taksim berichtete, zeigte CNN Türk eine Dokumentation über Pinguine – zeitgleich! Daher konnte man in den folgenden Tagen etliche Protestierende in Pinguinkostümen sehen, in der Hoffnung, so die Aufmerksamkeit der türkischen Medien auf sich ziehen zu können – nur eines der Beispiele für die unglaubliche Kreativität und den Witz, mit dem ein Großteil der Protestierenden ihre Frustration zeigte. Doch nicht nur zu Beginn, während der ganzen Proteste weigerten sich die großen TV- und Radiokanäle sowie Zeitungen (die alle zu wenigen großen Medienkonzernen gehören) irgendetwas Sinnvolles zu zeigen: Wie ein amerikanischer Reporter es ausdrückte: «Stellt euch vor, zehntausende demonstrieren am Times Square, und in den Medien gibt’s nichts!»*

Auch ich beteiligte mich an den Protesten in Antalya, mir wurde jedoch schnell klar, dass das Herz der Sache in Istanbul schlägt, daher ließen wir es uns nicht nehmen, nach Istanbul zu fahren. Dienstagmorgen fuhren wir mit dem Auto los, 700 Kilometer von Antalya nach Istanbul, nachmittags waren wir dort und schon von der Fähre aus, die Asien und Europa verbindet, sahen wir die Rauchschwaden vom Taksim aufsteigen.

Da viele Freunde von uns bereits dort waren, bekamen wir ständig Informationen, was passiert, doch die Lage änderte sich ständig. Es war etwa 16 Uhr und die Lage schien sich beruhigt zu haben, wir liefen die Istiklal-Straße hoch in Richtung Taksim. Als wir fast da waren, fingen unsere Augen plötzlich an zu tränen. Einige Schritte weiter konnte man nur noch schwer atmen. Schon auf dem Weg bot sich uns ein erschreckendes Bild: Mitten in der Innenstadt verkauften die gewieften Straßenhändler Gasmasken! Wie alle anderen flohen wir erst mal und sorgten dafür, dass unser Kind möglichst weit weg untergebracht wurde. Ich ging dennoch zum Taksim.

Dort war so ziemlich alles los: Im Zentrum des Gezi-Parks ein Art Öko- und Alternativcamp, unter keiner Flagge oder Organisation sich zu versammeln bereit, wollten sie Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe! Drumherum sammelten sich alle möglichen Fraktionen: Kommunisten, Sozialisten, die kurdische Partei BDP mit den Flaggen der PKK und Bildern von Öçalan (mitten in Istanbul!), gegenüber die extremen Nationalisten. Eines hat Erdogan jedenfalls geschafft: Er hat Todfeinde dazu gebracht, aus denselben oder zumindest ähnlichen Gründen zu protestieren, und so grüßten uns sowohl Öçalan als auch die Putschgeneräle am selben Ort und versicherten uns alle einstimmig, dass wir im selben Boot säßen. Unter diesen Umständen ist es beachtenswert, dass es innerhalb des Parks und am Taksim so gut wie keine Auseinandersetzungen zwischen den genannten Gruppen gab! Unter den Attacken der Polizei konnte man sie sogar Hand in Hand sehen.

Im Park manifestierte sich das perfekte Beispiel einer weltoffenen und frei organisierten Protestbewegung: Es gab eine medizinische Grundversorgung, auch während der härtesten Polizeieinsätze, Verpflegung mit Essen und Trinken (Alkohol war zwar ausdrücklich unerwünscht, aber dennoch hier und da zu sehen, vor allem im Umfeld des Taksim), die Hotels drumherum öffneten ihre Toiletten, es wurden Regenmäntel, Decken und Antitränengasmittel verteilt – und das alles umsonst! Egal was, es wurde geteilt, die Arbeit, die Zelte. Sambagruppen machten Stimmung, hier und da gab es Leseecken, alles war bunt und schön.

Der Dienstag war geprägt von den Einsätzen der Polizei, die Stimmung meistens angespannt, es gab einen regelrechten Krieg um den Taksim-Platz, bei dem Teile der Protestierenden bewiesen, dass sie zu allem bereit waren. Bestens vorbereitet, hatten sie tausende von Tricks auf Lager sowie den Mut, die Gasgranaten, die nicht wenigen (auch mir einmal fast) den Kopf zertrümmert haben, zurückzuwerfen oder außer Gefecht zu setzen (in einen Behälter voll Wasser oder ins Feuer, kleiner Tipp unter uns!). Zu erleben, wie eine Masse von unbewaffneten Menschen einer semimilitärisch vorgehenden Polizei trotzt, war aufregend und ermutigend! Später schaffte es die Polizei zwar, die Straßen weitgehend zu räumen, worauf ich mich nach Haus begab, doch schon am nächsten Tag war alles noch voller als zuvor!

Diese unglaublichen Menschen haben sogar einen Flügel auf den Taksim geschleppt, und so gab es den kompletten Mittwoch und Donnerstag Livekonzerte am Taksim, viele Menschen ließen sich mit Polizisten fotografieren oder auf ein Gespräch ein. Ein Protestierender stellte sich zwischen die Masse und die Polizei mit den jeweiligen Botschaften «Kein Gas!» bzw. «Keine Steine!» vorne und hinten. Die Hälfte der Touristen in Istanbul war ebenfalls am Taksim und im Park versammelt, Kinder, Familien, Musik, Malworkshops...

Ein letztes Beispiel für die Kraft der Solidarität: Der Fährverkehr über den Bosporus war eine Zeitlang gestoppt worden, um die Leute daran zu hindern, zum Taksim zu kommen, woraufhin etliche Wohlhabende ihre Privatjachten zur Verfügung stellten. Nichts schien unmöglich: Jemand schrieb «Motorrad» auf die «Nötiges»-Liste und eine halbe Stunde später stand eine Harley Davidson am Eingang des Parks!

Ich war überzeugt, dass Erdogan, die Medien und die Polizei diesmal vorsichtiger und klüger sein und nicht erneut so brutal gegen eine derart friedliche und bunte Menschenmasse vorgehen würden, vor allem weil die internationalen Medien und auch die Regierungen der USA und der EU Druck auf die Regierung ausübten und Sympathie für die Demonstranten zeigten. Erdogan wurde auf seiner Nordafrikareise sogar von Menschen zurückgewiesen, die ihn noch vor kurzem für seine demokratische Haltung während des arabischen Frühlings geehrt hatten – z.B. von einem der Führer der tunesischen Volksbewegung. Doch die Entwicklungen gestern Abend haben das Gegenteil bewiesen. Erdogan setzt auf Härte und vertraut auf den Teil der Bevölkerung, der loyal zu ihm steht und, so weit ich sehen kann, auch wirklich nicht mehr weiß (wissen kann?), als die besagten Medien zeigen. Eine Ironie der Geschichte? Ein großer Teil der Leute, die nun als Terroristen gebrandmarkt werden und schockiert sind über die Polizeibrutalität und das Verhalten der Medien, haben sich, davon zeugen ihre Kommentare zur gegenwärtigen Lage und den letzten zehn Jahren, nicht anders verhalten, als ihre Repräsentanten an der Macht waren.

Schließlich lässt sich nur hoffen, dass die türkische Gesellschaft gestärkt und demokratisiert aus diesem ganzen Schlamassel hervorgeht, doch derzeit ist das noch offen. Der größte Erfolg der Demonstrationen war wohl, zu zeigen, dass a) es auch eine andere (oder mehrere andere) Türkei gibt, b) das revolutionäre Potenzial des Internet nicht zu unterschätzen ist und c) wir uns anscheinend in Richtung einer Weltgesellschaft bewegen, in der sich alle jederzeit gegenseitig beobachten können – bleibt nur die Frage, ob dies eine positive oder eine negative Entwicklung ist. Der holprige Weg der Geschichte wird es uns zeigen!

*Der Oberste Rat für Rundfunk und Fernsehen hat Sender wie Halk TV, Ulusal TV oder Cem ZV mit einer Geldstrafe von 1000 Euro belegt, weil sie Livebilder von den Protesten und damit auch von den mit großer Härte vorgehenden Polizisten gesendet hatten. Als Grund für die Strafe und die Zensur wird der Kinder- und Jugendschutz angeführt. Die Bilder würden «der körperlichen, moralischen und geistigen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen» schaden. Im Gegensatz zu den großen Sendern, die staatstragend nicht oder kaum über die Proteste berichten, hatten die kleinen Sender ein Livestreaming geschaltet, das besonders bei Halk TV großen Zuspruch gefunden hat.

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