von Dominik Rigoll
Während die Geschichte der DDR zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf der Grundlage von Quellen ihrer Staatsschutzorgane geschrieben wird, harrt die westdeutsche «streitbare Demokratie» noch immer ihrer Historisierung.
Josef Foschepoths Studie zur Post- und Telefonüberwachung, inzwischen bereits in zweiter Auflage erschienen, setzt in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein, als die Hauptgefahr in den Augen der Westalliierten noch nicht primär von Kommunisten oder neonazistischen Gruppierungen ausging,
sondern von den rund 200.000 NS-Funktionsträgern und Militärs, die 1945 entlassen und zum Teil interniert worden waren. Der Freiburger Historiker macht sichtbar, dass die Alliierten einige der seit der Kapitulation der Wehrmacht bestehenden Kontroll- und Zensurmaßnahmen mit Gründung der Bundesrepublik nicht etwa einstellten, sondern ausbauten – mit tatkräftiger Unterstützung deutscher Politiker wie Bundesinnenminister Robert Lehr (CDU), Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) und – immer wieder – Konrad Adenauer, der die «Notwendigkeit einer alliierten Zensur» ausdrücklich anerkannte, wie man bei der Hohen Kommission zufrieden registrierte.
Zu den bemerkenswertesten Ergebnissen des Buches, das zusätzlich zur Darstellung einen umfangreichen Quellenanhang mit bislang überwiegend unveröffentlichten Dokumenten bietet, zählt sicher, dass es neben spezifischen Kontrollmaßnahmen, die auf Einzelpersonen und Organisationen zielten, eine unspezifische Massenzensur gab. Man zapfte nicht nur hunderte Einzelanschlüsse an, sondern hörte dauerhaft ganze Telefon-, Fernschreib- und Telegrafenleitungen ab – vor allem ins östliche Ausland, aber auch in westliche Staaten sowie im Bundesgebiet selbst. Zugleich begnügte man sich nicht damit, monatlich «6000–8000 Privatbriefe aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)» zu öffnen, die an bestimmte Einzelpersonen oder Häusergruppen adressiert waren. Vielmehr wurden von 1950 bis zu einem deutsch-deutschen Postpropagandastopp im Zuge der Neuen Ostpolitik im September 1971 bis zu 17,2 Millionen «staatsgefährdende» Broschüren im Jahr (!) aus dem Verkehr gezogen.
Das «Bedürfnis», möglichst viele Postsendungen gar nicht erst weiter zu prüfen, wurde dem Vermerk eines Ministerialbeamten vom Juni 1951 zufolge «allgemein anerkannt. Der Vertreter des Bundesministeriums des Innern wurde deshalb gebeten, dahin zu wirken, dass die Polizeibehörden ohne Verursachung weiterer Kosten das angefallene Propagandamaterial an Ort und Stelle durch Verbrennung vernichten.»
Ausgeführt wurde die Massenzensur von bundesweit rund 220 Postbeamten. Zunächst nur auf Geheiß der Alliierten, ab Mitte der 50er Jahre dann auch im Auftrag der Bundesregierung ergänzten sie den «antifaschistischen Schutzwall» in rund 30 dezentralen Kontrollstellen um eine Art antitotalitäre Firewall. Rechtlich begründet wurde die Aufhebung des Postgeheimnisses (Art.10 GG) und des Zensurverbots (Art.5) von Justizminister Dehler mit dem Hinweis auf die «Treuepflicht», die es allen Beamten auferlege, der Polizei sämtliche möglicherweise strafbaren Handlungen bekannt zu machen, derer sie innerhalb und außerhalb des Dienstes gewahr wurden.
Eine zentrale Rolle bei der Koordination der Überwachung spielte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das seit 1954 über den Polizeikräften stand. Bis 1972 eigentlich nur dazu befugt, als streng von der Polizei getrennte Informationssammelstelle zu fungieren, agierte das BfV laut Foschepoth im Grunde so wie andere Geheimdienste auch: Spionage, Spionageabwehr, Gegenspionage, und zwar sowohl auf dem Gebiet der Bundesrepublik als auch mit V-Leuten in der DDR – alles unter der Anleitung und Kontrolle westalliierter Sicherheitsdirektoren, deren eigene Protegés vor der deutschen Strafverfolgung geschützt waren.
Eine Schwäche des Buches ist, dass es zu nah an den verfassungs- und besatzungsrechtlichen Problemen entlang argumentiert, mit denen sich der konsultierte Aktenbestand in erster Linie beschäftigt, und vor allem auf die mangelnde Rechtsstaatlichkeit der untersuchten Praktiken bzw. auf den autoritären Antikommunismus der Akteure abhebt. Der konkrete Zensurvorgang vor Ort oder Proteste an der Basis des Staatsapparats werden vergleichsweise selten betrachtet. Dies ist auch insofern schade, als die Einleitung neben «neuen Quellen» mit der Geschichte der Bonner «Staatsdemokratie» auch einen «neuen Untersuchungsgegenstand» ankündigt, der die Formulierung «neuer Fragestellungen» erfordere, die die westdeutsche Erfolgsgeschichtsschreibung bislang vernachlässigt habe.
Hätte Foschepoth zudem den Staatsapparat genauer unter die Lupe genommen, wäre vielleicht deutlich geworden, dass ein Gutteil der den Kanzler umgebenden Ministerialbeamten nicht nur ein ideologisches, sondern ein geradezu materielles Interesse daran hatte, dass zensiert und dauerhaft mundtot gemacht würde, wer auf Flugblättern und in Broschüren daran erinnerte, dass bestimmte Beamte bereits im NS-Staat an ähnlicher Stelle tätig gewesen waren.
So wird es den – hoffentlich zahlreichen – Anschlussstudien vorbehalten sein, die vom Autor selbst aufgeworfene Frage zu beantworten, ob die «Verflechtung und Abgrenzung» beider deutschen Teilstaaten womöglich weniger «asymmetrisch» war als bisher angenommen.
Dominik Rigoll arbeitet am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er rezensierte das Buch für die Webseite H-Soz-u-Kult, eine Informations- und Kommunikationsplattform für Historiker, wo sie am 9.April 2013 erschien. Mit deren freundlicher Genehmigung geben wir den Beitrag gekürzt wieder. Dominik Rigoll hat zum Thema das Buch Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zum Extremistenbeschluss (Göttingen 2013) verfasst.
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