von Pierre Rousset
Ich bin kein Ägyptenspezialist. Ich informiere mich anhand qualitativ hochwertiger Berichte und Analysen von Aktivisten.. Ich vergleiche sie mit den asiatischen Erfahrungen, über die ich mehr weiß, wobei mir klar ist, dass Analogien eher helfen, Fragen zu stellen und Hypothesen zu entwerfen, als Antworten zu finden. Mir drängen sich folgende Überlegungen auf:
1.
Die sozialen Mobilisierungen, die im Jahr 2011 zur Entmachtung Mubaraks führten, ergriffen sehr viele Sektoren der Gesellschaft. Sie brachten revolutionäre demokratische und soziale Bedürfnisse zum Ausdruck, ohne dass der Organisationsgrad der Arbeiterbewegung und der einfachen Bevölkerungsschichten wie auch der radikalen Linken die Herausbildung von Strukturen der Doppelherrschaft zugelassen hätte.
Wir haben hier eine Situation, die für die gegenwärtige Periode typisch ist, auch über Ägypten hinaus: Massenbewegungen können Regimekrisen auslösen und Regierungen stürzen, diejenigen aber, die daraus unmittelbar Profit ziehen, sind die verschiedenen Teile der herrschenden Klassen und Eliten. Im großen und ganzen bricht der Staatsapparat nicht entzwei und die Klassenherrschaft der Bourgeoisie wird nicht direkt bedroht.
In Ägypten freilich konnten, angesichts der Radikalisierung sowohl im Land selbst wie auch in der arabischen Welt, weder die herrschenden Schichten noch der Imperialismus einen stabilen Übergang in eine Ära nach Mubarak erreichen. Erst die Armee, danach die Muslimbrüder hatten den «Auftrag», einen solchen Übergang zu bewerkstelligen, sie sind jedoch gescheitert. Folglich führt die Abschaffung der Diktatur in eine allgemeine, anhaltende Krise, in der alle gesellschaftlichen Widersprüche freigesetzt sind.
2.
Der Umfang der Radikalisierung «von unten» erklärt dieses Scheitern nicht allein, es liegt zu einem Gutteil auch an den scharfen Widersprüchen innerhalb der herrschenden Klassen und Eliten. Der Sturz der Diktatur 2011 und der Wahlsieg der Muslimbrüder haben die Frage aufgeworfen: Welche Teile der herrschenden Klassen würden sich nun Macht aneignen können? Wie die aktuelle Situation zeigt, nehmen die gewalttätigen Konflikte «ganz oben» sogar Züge eines Bürgerkriegs innerhalb der Bourgeoisie selbst an.
Die Armee hat an diesen Machtkämpfen einen unmittelbaren Anteil, denn die höheren Offiziere und das Militär als Institution sind ein Teil der ägyptischen Bourgeoisie, sie nennen Unternehmen und Grundbesitz ihr Eigen. Gestern versuchten die Muslimbrüder, die Massenbewegung zurückzudrängen, heute versucht es die Armee. Sie versucht aber auch, ihre Position im Rahmen der herrschenden Ordnung abzusichern, und da kommt sie mit den anderen in Konflikt.
3.
Der Aufstieg der Muslimbrüder hat das Gleichgewicht innerhalb der herrschenden Klassen und Eliten durcheinander gebracht. Die Verantwortlichen des alten Regimes und die Armee mussten sich zurückhalten, weil sie 2011/12 in Ungnade gefallen waren und weil die Muslimbrüder Masseneinfluss hatten und sich als Rettungsanker in der Krise präsentierten.
Die Muslimbrüder haben durch die politischen Maßnahmen, die sie ergriffen haben, aber sehr bald einen großen Teil dieses Einflusses wieder vergeudet: die Kontinuität mit dem alten Regime, die Repression, die neoliberale Wirtschaftspolitik, das Streben nach Kontrolle und Gängelung der Arbeiterbewegung, der Aufstieg konservativer Strömungen (vor allem gegenüber den Frauen), die angekündigte Konfessionalisierung des Staates und seine autoritäre Haltung, die wachsende Verwicklung in sektiererische Konflikte (Sunniten gegen Schiiten), die Attacken gegen die Koppten, die Händel mit den Salafisten…
Dieser Kurs hat 2013 zu einem enormen Wiederaufleben der demokratischen und sozialen Massenaktionen geführt, was nicht zuletzt ein Zeugnis dafür ist, dass die Massenbewegung und die Hoffnungen von 2011 weiter lebendig sind. Sie haben die politische Situation erneut verändert. Aber wie 2011 waren es wiederum Teile der Elite, die die Gelegenheit zu nutzen verstanden: «zivile» Sektoren des alten Regimes und vor allem die Armee – wobei diese selbst Teil des alten Regimes ist, sie war ja sein militärischer Arm.
Im Unterschied zu 2011 scheint die Armee derzeit tatsächlich einen großen Rückhalt in der Bevölkerung zu haben. Sie nutzt ihn, um ihr eigenes diktatorisches Regime aufzubauen und mit Hilfe von Massakern ihre Rechnung mit den Muslimbrüdern zu begleichen. Die Lage könnte in einen Bürgerkrieg münden, in dem sich Teile der Elite und der Bourgeoisie (jeweils mit ihrer eigenen Massenbasis und Miliz) gegenüberstehen, während die Bevölkerung zur Geisel genommen wird. Ein Desaster.
4.
Alle Aufmerksamkeit richtet sich heute auf die Konfrontation zwischen dem Militärregime und den Muslimbrüdern. Dabei ist die Massenbewegung nicht gebrochen. Sie hat keine Niederlage erlitten. Aber sie kämpft heute unter deutlich schwierigeren Bedingungen.
Eines der Hauptprobleme ist, dass die progressiven Teile der politischen und sozialen Bewegungen, die eine Position der Klassenunabhängigkeit vertreten, stark in der Minderheit sind: das sind heute, scheint es, revolutionäre Sozialisten und ein Flügel der radikalen Gewerkschaften (Fatma Ramadan…). Das hat viel mit den vorherrschenden Traditionen in der Linken und auch mit den traditionellen Gewerkschaftsapparaten zu tun, die je nach Lage das Bündnis mit dem einen oder dem anderen Sektor des Bürgertums suchen.
Die sozialen Bewegungen werden diese Schwierigkeit nicht von selbst überwinden können: Soziale und politische Unabhängigkeit baut sich langfristig auf und braucht organisierte Strukturen. Wie lässt sich das erreichen in solchen tumulthaften Zeiten? Von außen lässt sich das unmöglich sagen: Die Formulierung des Ziels reicht allein nicht aus; die fortschrittlichen und revolutionären Kräfte müssen handeln, während gigantische Kräfte in Widerstreit miteinander stehen. Unter diesen Umständen, scheint mir, verdienen alle Bewegungen Unterstützung, die versuchen, eine Position der Unabhängigkeit der einfachen Bevölkerungsschichten zu erreichen; mit Urteilen (vor allem kritischen) gilt es, sehr vorsichtig zu sein.
5.
Was immer der Fortgang der politischen Ereignisse sein mag, das Ziel der Unabhängigkeit der einfachen Bevölkerungsschichten impliziert, dass man sich von keiner Strömung der Konterrevolution vereinnahmen lassen darf. Nennen wir vier davon: die «Reste» das alten Regimes (es sind große Reste), die Armee, die Muslimbrüder und die Salafisten.
Nicht nur in Ägypten hofft ein Teil der Linken, dass die Armee (oder ein Teil der Armee) eine fortschrittliche Rolle spielen könnte, indem sie einen Regimewechsel unterstützt und die Schwäche (oder die Spaltung) der Massenbewegung kompensiert. Die Erfahrungen in Venezuela hat solchen Hoffnungen Nahrung gegeben. Das ägyptische Militärregime ist jedoch zu verurteilen – ohne wenn und aber.
Auch ein Teil der radikalen Linken spart sich eine Klassenanalyse der Muslimbrüder bzw. des politischen Islam, unter dem Vorwand ihrer religiöser Identität. Dieselbe Linke hat sich jedoch nie allein an den religiösen Bezügen europäischer Parteien aufgehalten (etwa der Christdemokraten oder der christlichen extremen Rechten in den USA). Die Muslimbrüder sind eine politische Strömung, die Regierungspartei geworden ist: eine Partei der bürgerlichen Rechten, die neoliberale Politik macht, mit dem Imperialismus verhandelt, die Gewerkschaft an die Leine legen und die sozialen Bewegungen mundtot machen will. Nicht sehr originell. Sie instrumentalisieren religiöse Gefühle und befeuern damit die «sektiererischen» Konflikten, die die arabische Welt spalten (Sunnismus, Schiitismus...), sie schüren die tödliche Dynamik eines endlosen ideologischen Kampfes zwischen politisch-religiösen Strömungen, mit verheerenden gesellschaftlichen Folgen.
Dabei geht es hier weder um «Religion» noch um Islam, sondern um den real existierenden politischen Islam. Es sei daran erinnert, dass vor gar nicht so langer Zeit die britische SWP noch hoffte, der Islam könne den wachsenden Antiimperialismus in der muslimischen Welt zum Ausdruck bringen – er solle daher unser objektiver, wenn nicht gar subjektiver Verbündeter werden.
Die salafistischen (und andere fundamentalistische) Strömungen besetzen eine politische Nische ähnlich wie die faschistischen Gruppen in Europa; ich halte sie für «Klerikalfaschisten», sie provozieren grausame Konflikte in Tunesien, Syrien oder Kurdistan, vom furchtbaren Präzedenzfall Pakistans ganz zu schweigen.
6.
Die ägyptische Erfahrung bestätigt erneut, dass man soziale und demokratische Forderungen nicht gegeneinander stellen darf, sondern verbinden muss. Die Debatte über die Verfassung ist nicht zweitrangig und geht nicht nur die Eliten etwas an – in erster Linie geht sie die Frauen aus dem Volk etwas an. Der Verfassungsentwurf, den die Muslimbrüder und die Salafisten vorbereitet haben, sollte den Sunnismus zur Staatsreligion machen und eine reaktionäre Version der Scharia einführen (als Rechtssystem, nicht als spiritueller Leitfaden), die in allen Bereichen der Gesellschaft Gültigkeit haben sollte.
Es durfte weder wirkliche Demokratie geben – ein Komitee von Religionsvätern, nicht das Volk sollte über die «Gesetzmäßigkeit» von Handlungen entscheiden – noch Gleichheit der Bürger; die Kopten wissen ein Lied davon zu singen, aber auch Schiiten und Angehörige anderer muslimischer Glaubensrichtungen, ganz zu schweigen von den Atheisten, Abtrünnigen und Freidenkern.
Laizität ist ihrer grundlegenden Bedeutung nach – Trennung von Kirche und Staat –, unabhängig von ihren vielfältigen Formen, eine Garantie für die Gleichheit der Bürger und eine Bedingung für «wirkliche Demokratie». Sie bedeutet auch einen gegenseitigen Schutz: des Staates vor der Einflussnahme der Kirchen und der Glaubensfreiheit gegenüber dem Staat. Es gibt aber auch Vorstellungen von «Laizität», die Freiheit zerstören, und laizistische Strömungen, die politisch bürgerlich und reaktionär sind. Auch hierfür finden sich Beispiele in Ägypten: Im Namen der Laizität riefen neoliberale Kräfte das Militär zu Hilfe.
Unter demokratischen Rechten stellen wir uns nicht nur die bürgerlichen Freiheiten vor, sondern das Recht auf gesellschaftliche und gewerkschaftliche Organisierung, die Rechte der Arbeiter und Bauern – was andere, die für «Demokratie» kämpfen, gern vergessen.
Die Forderungen nach «Laizität» und «Demokratie» rechtfertigen also keine Bündnisse mit bürgerlichen Kräften. Und die Klassenunabhängigkeit muss sich auf allen Gebieten erweisen – auch in der Verfassung – und nicht nur auf dem sozialen Terrain im engeren Sinn.
7.
Und was hat die Geopolitik in all dem zu tun? In jedem Land begehren die Menschen gegen jeweils spezifische soziale und politische Bedingungen auf. Sie sind nicht Vollstrecker eines imperialistischen Plans und nicht Handlanger eines Ölscheichtums. Sie haben die regionale Ordnung ebenso umgeworfen wie die nationale Ordnung.
Die Großmächte und die Regionalmächte reagieren auf die Ereignisse viel mehr, als dass sie sie initiieren. Natürlich versucht jeder Imperialismus und jede Ölbourgeoisie, in der Krise der arabischen Welt ihre eigenen Pläne zu verfolgen und größtmöglichen Profit daraus zu ziehen. Saudi-Arabien beispielsweise freut sich über die Absetzung der Muslimbrüder in Ägypten, schätzt aber ganz und gar nicht, dass zum wiederholten Mal Massenmobilisierungen zum Sturz der Regierung führten.
Die westlichen Mächte haben es bislang nicht geschafft, einen geordneten Übergang unter ihrer Kontrolle zu erreichen, es herrscht Chaos. So bekommt der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten in der Region Oberwasser, der reibt sich aber auch an den sozialen Ursachen der Revolten und der begründeten Angst vor der sektiererischen Dynamik der Gewalt zwischen den Religionsgemeinschaften. Die Erinnerung an die Entgleisung der iranischen Revolution oder die Gewaltexzesse in Algerien in den 90er Jahren scheint einen Teil der Bevölkerung in der Region gegen die religiösen Fundamentalisten und ihre Manipulationen einzunehmen – angefangen bei den Frauen natürlich.
Klassenunabhängigkeit bedeutet deshalb auch, sich weder von einer imperialistischen Macht, noch von einer Monarchie oder der iranischen Theokratie vereinnahmen zu lassen. Das heißt Politik vom Standpunkt der Klassenkämpfe im eigenen Land zu entwickeln. Die Geopolitik kommt später. Erst kommen die inneren Widersprüche in der eigenen Gesellschaft, und erst dann die Manöver der Groß- oder Regionalmächte.
Pierre Rousset ist Asienspezialist und betreibt die Webseite www.europe-solidaire.org. Er ist Mitglied der französischen NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste).
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